Byrne & Balzano 1: Crucifix
– und oft schon vorher –, auf seinem Bock.
Als Zivilfahnder beim Rauschgiftdezernat musste Vincent Balzano sich keinerlei Kleidungsvorschriften beugen. Mit seinem Viertagebart, seiner abgeschabten Lederjacke und der Serengeti-Sonnenbrille sah er eher wie ein Verbrecher als wie ein Polizist aus. Sein dunkelbraunes Haar war länger als je zuvor. Er hatte es zurückgekämmt und zusammengebunden. Die goldene Kette mit dem goldenen Kreuz glitzerte in der Morgensonne.
Jessica stand seit jeher auf diese smarten, dunklen Typen.
Sie verdrängte den Gedanken und zeigte ihm die kalte Schulter.
»Was willst du, Vincent?«
Er nahm die Sonnenbrille ab und fragte ruhig: »Wann ist er gegangen?«
»Für diesen Scheiß hab ich jetzt keine Zeit.«
»Es ist eine ganz einfache Frage, Jessie.«
»Und es geht dich nichts an.«
Jessica sah, dass ihn die Antwort kränkte, aber das war ihr im Moment egal.
»Du bist meine Frau«, sagte er, als würde er ihr Auskünfte über ihr Leben erteilen. »Dies ist mein Haus. Meine Tochter schläft hier. Es geht mich verdammt was an.«
Lieber Gott, bewahre mich vor Italoamerikanern , dachte Jessica. Gab es besitzergreifendere Geschöpfe? Im Vergleich zu Italoamerikanern waren Gorillas Intellektuelle. Italoamerikanische Cops aber waren noch schlimmer. Wie Jessica selbst auch war Vincent in den Straßen Süd-Philadelphias geboren und aufgewachsen.
»Ach, jetzt geht es dich was an? Ging es dich auch was an, als du diese Nutte gevögelt hast? Als du diese Schlampe aus Süd-Jersey in meinem Bett gebumst hast?«
Vincent rieb sich übers Gesicht. Er sah müde aus; seine Augen waren gerötet. Offenbar hatte er eine lange Fahrt hinter sich. Oder eine lange Nacht, in der er etwas anderes getrieben hatte. »Wie oft muss ich mich noch bei dir entschuldigen, Jess?«
»Ein paar Millionen Mal, Vincent. Dann werden wir zu alt sein, um uns daran zu erinnern, dass du mich betrogen hast.«
In jedem Dezernat gab es Betthäschen, Cop-Groupies, die plötzlich das unkontrollierbare Verlangen verspürten, sich auf den Rücken zu legen und die Beine zu spreizen, sobald sie eine Uniform oder eine Dienstmarke sahen. Die meisten gab es beim Rauschgift und bei der Sitte – aus nahe liegenden Gründen. Aber Michelle Brown war kein Cop-Groupie. Michelle Brown war eine Affäre. Michelle Brown hatte ihren Ehemann in ihrem Haus gevögelt.
»Jessie.«
»Dieser Scheiß hat mir heute gerade noch gefehlt. Also ehrlich.«
Vincent wurde eine Spur freundlicher, als hätte er sich soeben daran erinnert, welcher Tag heute war. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Jessica hob eine Hand.
»Nicht«, sagte sie. »Nicht heute.«
»Wann?«
Ja, wann. Sie wusste es nicht. Vermisste sie ihn? Ja, wahnsinnig. Würde sie es zugeben? Niemals. »Ich weiß es nicht.«
Trotz all seiner Fehler, und davon gab es etliche, wusste Vincent Balzano, wann er seine Frau in Ruhe lassen musste. »Komm«, sagte er. »Ich könnte dich wenigstens in die Stadt fahren.«
Er wusste, dass sie ablehnen und auf den Phyllis-Diller-Look verzichten würde, den ihr eine Fahrt zum Roundhouse auf einer Harley verlieh.
Doch er schenkte ihr dieses verdammte Lächeln, das sie mehr als alles andere dazu getrieben hatte, mit ihm ins Bett zu steigen, und sie hätte fast – mit Betonung auf fast – eingewilligt.
»Ich muss los, Vincent«, sagte sie.
Jessica ging um die Harley herum und steuerte auf die Garage zu. Obwohl die Versuchung groß war, sich umzudrehen, widerstand sie. Er hatte sie betrogen, und jetzt fühlte sie sich total beschissen.
Was stimmte an diesem Bild nicht?
Während sie den richtigen Schlüssel suchte und schließlich fand, hörte sie, wie die Harley ansprang, wendete, laut grollte und am Ende der Straße verschwand.
Jessica ließ ihren Cherokee an und schaltete den Verkehrsfunk ein. Auf der I-95 war ein Stau. Sie schaute auf die Uhr. Zum Glück hatte sie noch Zeit. Sie würde über die Frankford Avenue in die Stadt fahren.
Als sie aus der Einfahrt fuhr, sah sie vor dem Haus gegenüber, in dem die Arrabiatas wohnten, einen Krankenwagen stehen. Wieder einmal. Sie wechselte einen Blick mit Lily Arrabiata; Lily winkte. Offenbar hatte Carmine Arrabiata seine wöchentliche Herzattacke – wieder blinder Alarm. Diese Vorfälle ereigneten sich mit schöner Regelmäßigkeit. Man konnte fast die Uhr danach stellen. Jessica konnte sich nicht mehr erinnern, wann es angefangen hatte. Mittlerweile schickte die Stadt keinen Notarzt mehr. Die
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