Byrne & Balzano 1: Crucifix
Licht gewöhnt hatten, sah er auf dem Couchtisch vor sich sein geöffnetes Apple Powerbook, auf dem ein Bild der aktuellen Website des Report zu sehen war.
MONSTER JAGT MÄDCHEN IN PHILLY!
Einige Formulierungen und Sätze waren in Rot hervorgehoben.
… irrer Psychopath …
… perverser Schlächter der Unschuldigen …
Auf einem Stativ hinter dem Laptop stand Simons Digitalkamera. Die Kamera war eingeschaltet und auf ihn gerichtet.
Simon hörte das Klicken hinter sich. Sein Henker hatte die Maus des Apple in der Hand und klickte durch das Dokument. Ein anderer Artikel erschien auf dem Monitor. Er war drei Jahre alt – ein Bericht, den Simon geschrieben hatte, als Blut auf eine Kirchentür im Nordosten geschmiert worden war. Auch hier war ein Satz hervorgehoben:
… horcht dem Verkünder, Irre schmieren …
Simon hörte, dass hinter ihm der Reißverschluss einer Tasche aufgezogen wurde. Einen Moment später spürte er den leichten Einstich im Nacken. Eine Nadel. Simon kämpfte heftig gegen die Fesseln an, doch es war sinnlos, selbst wenn er sich hätte befreien können. Das Mittel, das ihm gespritzt worden war, wirkte auf der Stelle. Wärme strömte durch seine Muskeln. Er spürte eine angenehme Schwäche, die er vielleicht genossen hätte, wäre er nicht in dieser Situation gewesen.
Ein Schleier legte sich über seinen Verstand. Er schloss die Augen. Seine Gedanken flüchteten in die letzten zehn Jahre seines Lebens, ohne bei bestimmten Bildern zu verweilen.
Als er die Augen wieder öffnete, nahm ihm der Anblick des grausamen Büfetts, das auf dem Couchtisch vor ihm aufgebaut worden war, den Atem. Einen Augenblick versuchte er, dem Szenarium etwas Wohlwollendes abzugewinnen. Es war unmöglich.
Als seine Därme sich erleichterten, erhielt sein Reporterhirn den letzten visuellen Input – eine schnurlose Bohrmaschine, eine große Nadel mit einem dicken, schwarzen Faden.
Da wusste er es.
Die nächste Injektion führte ihn an den Rand des Abgrunds. Diesmal ging er bereitwillig mit.
Ein paar Minuten später, als er das Surren des Bohrers hörte, begann Simon Close zu schreien, doch es schien ein anderer zu sein, der den Schrei ausstieß. Es war ein geisterhaftes Jammern, das von den feuchten Steinwänden eines katholischen Heims im Norden Englands herüberhallte, wo die Zeit stehen geblieben zu sein schien, ein klagender Seufzer, der über die alten Moore wehte.
55.
Mittwoch, 19.35 Uhr
J essica und Sophie saßen am Tisch und stocherten in den Köstlichkeiten, die Jessicas Vater ihnen eingepackt hatte: Panettone, sfogliatelle , Tiramisu. Es war nicht gerade eine ausgewogene Mahlzeit, aber Jessica hatte keine Lust mehr gehabt, einkaufen zu gehen, und der Kühlschrank war leer.
Sie wusste, dass es keine gute Idee war, Sophie um diese Zeit so viele Süßspeisen anzubieten, aber Sophie aß ebenso wie ihre Mutter schrecklich gerne Süßes, und es war so schwer, Nein zu sagen. Jessica hatte schon vor langer Zeit beschlossen, für die Zahnarztrechnungen zu sparen.
Außerdem war das Tiramisu die beste Medizin, nachdem sie Vincent mit Britney oder Courtney oder Ashley – wie auch immer die Schlampe hieß – hatte flirten sehen. Sie versuchte, das Bild ihres Mannes in Gesellschaft der blonden jungen Frau zu verdrängen.
Unglücklicherweise wurde es sofort durch das Bild von Brian Parkhursts Leiche, die in dem stickigen Raum an einem Deckenbalken hing, und dem Geruch des Todes ersetzt.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr zweifelte sie an Parkhursts Schuld. Hatte er sich mit Tessa Wells getroffen? Vielleicht. War er für den Mord an drei jungen Frauen verantwortlich? Sie glaubte nicht daran. Es war nahezu unmöglich, eine Entführung und einen Mord zu begehen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Und drei?
Allein schon der Gedanke war verrückt.
Aber was hatte das PAR auf Nicole Taylors Hand zu bedeuten?
Jessica kam der Gedanke, dass ihr der neue Job bei der Mordkommission viel mehr abverlangte, als sie bewältigen zu können glaubte.
Sie wischte den Tisch ab, setzte Sophie vor den Fernseher und legte die DVD Findet Nemo ein.
Dann goss sie sich ein Glas Chianti ein, wischte den Esstisch ab und legte ihre sämtlichen Notizen über den Fall auf den Tisch. Sie dachte über die zeitliche Abfolge der Morde nach. Diese Mädchen mussten irgendeine Gemeinsamkeit haben, die nicht nur darin bestand, dass sie alle katholische Schulen besucht hatten.
Nicole Taylor, auf offener Straße
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