Byrne & Balzano 1: Crucifix
entführt und auf einer Blumenwiese abgelegt.
Tessa Wells, auf offener Straße entführt und in einem verfallenen Haus abgelegt.
Bethany Price, auf offener Straße entführt und vor dem Rodin-Museum abgelegt.
Die Wahl der Orte, an denen die toten Mädchen abgelegt worden waren, schien zufällig und wohl überlegt zugleich, sorgfältig geplant und doch willkürlich.
Nein, dachte Jessica. Dr. Summers hatte Recht. Der Täter ging nicht planlos vor. Die Fundorte der Leichen waren so bedeutsam wie die Mordmethode.
Jessica schaute sich die Fotos der Leichen an und versuchte, sich die letzten Augenblicke der Mädchen in Freiheit vorzustellen, versuchte, die Dramen, die sich abgespielt hatten, aus dem Schwarz-Weiß-Bereich in die grellen Farben eines Albtraums zu übertragen.
Jessica nahm Tessa Wells’ Schulfoto in die Hand. Tessas Tod erschütterte sie am stärksten, weil Tessa das erste Opfer gewesen war, das sie gesehen hatte. Oder vielleicht auch, weil sie wusste, dass Tessa das schüchterne junge Mädchen war, das Jessica einst gewesen war, die Puppe, die sich stets danach sehnte, zu einem Schmetterling heranzureifen.
Jessica ging ins Wohnzimmer und drückte einen Kuss auf Sophies glänzendes, nach Erdbeeren duftendes Haar. Sophie kicherte. Jessica schaute sich ein paar Minuten den Film mit ihrer Tochter an, die farbenprächtigen Abenteuer von Dory und Marlin und Gill.
Dann fiel ihr Blick auf den Umschlag auf dem Tisch im Wohnzimmer. Sie hatte ihn ganz vergessen.
Das Rosarium Virginis Mariae.
Jessica setzte sich an den Esstisch und las die langen Ausführungen. Es schien sich um ein Schreiben von Papst Johannes Paul II. zu handeln, in dem dieser die Relevanz des heiligen Rosenkranzes bekräftigte. Jessica las die Überschriften, wobei ihre Aufmerksamkeit auf einen Abschnitt mit dem Titel »Mysterien Christi, Mysterien seiner Mutter« gelenkt wurde.
Und beim Lesen begriff sie allmählich. Jessica erkannte, dass sie eine Grenze überschritten hatte, die ihr bis zu dieser Sekunde unbekannt gewesen war, eine Barriere, die sich nie mehr verschließen würde.
Sie erfuhr, dass es fünf »schmerzhafte Mysterien« des Rosenkranzes gab. Das hatte sie auch in der katholischen Schule gelernt, die sie besucht hatte, doch sie hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht.
Die Gefangennahme Jesu im Garten von Gethsemane.
Die Geißelung an der Säule.
Die Dornenkrönung.
Der Weg über die Via Dolorosa.
Die Kreuzigung.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Nicole Taylor war in einem Garten gefunden worden. Tessa Wells umarmte eine Säule. Bethany Price trug eine Dornenkrone.
Das war der Plan des Killers.
Er hatte vor, fünf Mädchen zu töten.
Einen kurzen bangen Augenblick war Jessica wie erstarrt. Sie atmete mehrmals tief durch. Wenn sie mit ihrer Vermutung Recht hatte, würde diese Information die Ermittlungen völlig auf den Kopf stellen. Aber sie wollte der SoKo ihre Theorie nicht präsentieren, bevor sie ganz sicher war.
Den Plan des Killers zu kennen war ein erster Erfolg, aber es war ebenso wichtig, ihn zu verstehen. Erst dann könnte sie herauszufinden versuchen, wo der Täter das nächste Mal zuschlagen würde.
Jessica nahm ein Blatt und unterteilte es in verschiedene Quadrate.
Der Splitter eines Lammknochens, den sie bei Nicole Taylor gefunden hatten, sollte die Ermittler an den Fundort von Tessa Wells’ Leichnam führen.
Aber wie?
Jessica blätterte die Stichwortverzeichnisse der Bücher durch, die sie sich in der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte. Sie fand etwas über römische Bräuche und erfuhr, dass bei Geißelpraktiken zur Zeit Christi kurze Peitschen benutzt wurden, das so genannte flagrum , das oft aus Lederriemen unterschiedlicher Längen bestand. Die Enden der einzelnen Riemen waren verknotet, und in die Knoten wurden spitze Lammknochen eingefügt.
Der Lammknochen bedeutete, dass es eine Geißel an der Säule geben würde.
Jessica machte sich Notizen, so schnell sie konnte.
Was die Kopie von Blakes Gemälde Dante und Virgil vor dem Höllentor bedeutete, das in Tessa Wells’ Händen gefunden worden war, lag auf der Hand. Bethany Price wurde vor dem Tor zum Rodin-Museum gefunden.
Die Untersuchung von Bethanys Leiche hatte ergeben, dass auf ihren Handflächen zwei Zahlen standen. Auf der linken Hand stand die Zahl 7, auf der rechten Hand die 16. Beide Zahlen waren mit einem schwarzen Magic Marker auf die Hände aufgetragen worden.
716.
Eine Adresse? Ein Kfz-Kennzeichen? Teil einer
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