Byrne & Balzano 1: Crucifix
Was war das noch mal? Ein kleiner Körpererkundungskurs in meinem Bett?«
»Hör mir zu.«
Vincent packte Jessica am Arm, und zum ersten Mal, seitdem sie sich kannten, zum ersten Mal in ihrer stürmischen, leidenschaftlichen Liebesbeziehung, standen sie sich wie Fremde gegenüber. Wie eines der streitenden Paare an einer Straßenecke, die man in glücklichen Zeiten fassungslos beobachtet, weil man glaubt, niemals selbst in eine solche Situation zu geraten.
»Lass es sein«, warnte sie ihn.
Vincent umklammerte sie fester. »Jess.«
»Nimm deine dreckigen Pfoten von meinem Arm.« Jessica wunderte sich nicht, dass sie beide Hände geballt hatte. Die Erkenntnis erschreckte sie ein wenig, aber nicht genug, um sich zu entspannen. Würde sie ihm eine Ohrfeige verpassen? Sie wusste es nicht.
Vincent trat zurück und hob beschwichtigend die Hände. An dem Blick, den er ihr zuwarf, erkannte Jessica, dass sie beide soeben eine Grenze überschritten hatten und dunkle Sphären betraten, die sie vielleicht nie mehr verlassen würden.
Aber in diesem Augenblick interessierte sie das nicht.
Sie sah nur einen blonden Pferdeschwanz und das idiotische Lächeln auf Vincents Gesicht, als sie ihn vorhin ertappt hatte.
Jessica nahm das Paket in die Hand, drehte sich um und kehrte zu ihrem Cherokee zurück. Sie hatte nicht mehr die geringste Lust, bei UPS, der Bank und dem Supermarkt vorbeizufahren. Sie wollte nur noch weg.
Jessica sprang in den Jeep, startete und trat das Gaspedal ganz durch. Insgeheim hoffte sie beinahe, dass ein Streifenbeamter sie anhielt und ins Gebet nahm.
Sie hatte kein Glück. Nie war ein Cop in der Nähe, wenn man einen brauchte.
Nur der, mit dem sie verheiratet war.
Ehe Jessica in die South Street einbog, schaute sie in den Innenspiegel und sah Vincent noch immer an der Ecke stehen, die Hände in den Taschen vergraben, eine schwindende, einsame Gestalt vor dem Hintergrund der roten Ziegelsteinhäuser in Society Hill.
Und diese Szene läutete gleichsam das Ende ihrer Ehe ein.
54.
Mittwoch, 19.15 Uhr
D ie Nacht hinter dem Rohrklebeband glich einer Landschaft von Dali – schwarze Samtdünen, die auf einen fernen Horizont zu rollten. Ab und zu krochen Lichtstrahlen durch den unteren Teil seines Sichtfelds und gaukelten ihm vor, in Sicherheit zu sein.
Sein Kopf schmerzte; seine Glieder waren wie gelähmt. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Klebeband über seinen Augen störte ihn zwar sehr, doch der Klebestreifen über seinem Mund machte ihn schier wahnsinnig. Für einen Menschen wie Simon Close war die Demütigung, mit verbundenen Augen an einen Stuhl gefesselt und mit einem stinkenden, klebrigen Lappen geknebelt zu sein, im Vergleich zur Unfähigkeit, nicht sprechen zu können, kaum der Rede wert. Wenn er die Sprache verlor, verlor er den Kampf. So war es immer gewesen. Als kleiner Junge hatte er es in dem katholischen Heim in Berwick fast jedes Mal geschafft, sich herauszureden, wenn er in eine brenzlige Situation geraten war oder in der Klemme saß.
Diesmal nicht.
Er konnte kaum einen Laut von sich geben.
Das Klebeband war unmittelbar über den Ohren fest um seinen Kopf gewickelt, sodass er hören konnte.
Wie komme ich hier raus? Tief durchatmen, Simon.
Seltsamerweise dachte er an die Bücher und CDs über Meditation und Yoga, die er sich im Laufe der Jahre angeschafft hatte. Unter anderem wurde dort auch die Zwerchfellatmung erklärt, eine Yogatechnik, die helfen sollte, Stress und Angst zu bekämpfen. Simon hatte kein einziges Buch gelesen und sich keine CD länger als ein paar Minuten angehört. Er hatte auf eine schnelle Lösung für seine gelegentlichen Panikattacken gehofft – das Xanax machte ihn zu träge, um klar denken zu können –, aber Yoga bot keine schnelle Lösung an.
Jetzt wünschte er sich, er hätte sich intensiv damit beschäftigt.
Rette mich, Deepak Chopra , dachte er.
Hilf mir, Dr. Weil.
Dann hörte er, dass hinter ihm die Tür zu seiner Wohnung geöffnet wurde. Er war zurück. Das Geräusch erfüllte ihn mit einem Übelkeit erregenden Gemisch aus Hoffnung und Furcht. Er hörte die Schritte, die sich näherten. Spürte das Beben des Holzbodens. Er roch einen süßen, blumigen Geruch. Schwach, aber er war da. Das Parfüm eines jungen Mädchens.
Plötzlich wurde ihm das Klebeband von den Augen gerissen. Er verspürte einen so höllischen Schmerz, als wären seine Augenlider an dem Band haften geblieben.
Als seine Augen sich an das
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