Byrne & Balzano 3: Lunatic
gegangen und nie wieder herausgekommen. Wie oft war Jessica mit ihrer Tochter in den Park gegangen? Wie oft hatte sie den Blick nur für eine Sekunde von Sophie abgewandt?
Jessica schaute sich die Tatortfotos an. Die Mädchen wurden neben einer Kiefer gefunden. Nahaufnahmen zeigten, dass der Täter offenbar ein Nest rings um die Opfer gebaut hatte.
Es gab mehrere Dutzend Aussagen von Familien, die an jenem Tag im Park gewesen waren. Niemand schien etwas gesehen zu haben. Gerade waren die kleinen Mädchen noch da gewesen – im nächsten Augenblick waren sie verschwunden. Die Polizei wurde an dem Abend gegen neunzehn Uhr verständigt. Zwei Beamte hatten mit Hunden aus der Staffel K-9 sofort die Suche nach den vermissten Kindern aufgenommen. Um drei Uhr am nächsten Morgen wurden sie am Ufer des Wissahickon Creek gefunden.
Im Laufe der nächsten Jahre erfolgten sporadisch Einträge in die Akte, die meisten von Walt Brigham, aber einige auch von seinem Partner John Longo. Alle Einträge ähnelten sich. Keine neuen Erkenntnisse.
»Sieh mal.« Nicci zog die Fotos des Farmhauses heraus und drehte sie um. Auf der Rückseite eines Fotos stand die Postleitzahl, deren beiden letzten Zahlen unleserlich waren. Auf der Rückseite des anderen Bildes standen die drei Buchstaben ADC. Nicci zeigte auf einen Eintrag in Walt Brighams Notizbuch. Zwischen den vielen Abkürzungen fanden sie dieselben Buchstaben: ADC.
ADC bedeutete Annemarie DiCillo.
Jessica war wie elektrisiert. Das Farmhaus hatte etwas mit Annemaries Ermordung zu tun. Und Annemaries Ermordung hatte etwas mit Walt Brighams Tod zu tun.
»Walt war dem Täter auf der Spur«, sagte Jessica. »Er wurde ermordet, weil er dem Mörder immer näher kam.«
»Bingo.«
Jessica dachte über die Beweise und die Theorie nach. Nicci hatte bestimmt recht. »Was hast du vor?«, fragte sie.
Nicci zeigte auf das Foto des Farmhauses. »Ich glaube, ich fahre nach Berks County. Vielleicht finde ich dieses Haus.«
Jessica sprang auf. »Ich komme mit.«
»Hast du heute nicht frei?«
Jessica lachte. »Was heißt das schon?«
»Heute ist Silvester.«
»Wenn ich um Mitternacht wieder zu Hause bin und in den Armen meines Mannes liege, ist das okay.«
Es war kurz nach neun Uhr am 31. Dezember, als Jessica Balzano und Nicolette Malone, zwei Detectives der Mordkommission der Polizei von Philadelphia , auf den Schuylkill Expressway auffuhren und Berks County in Pennsylvania ansteuerten.
Ihre Fahrt führte sie flussaufwärts.
Vierter Teil
Was der Mond sah
70.
D u stehst dort, wo das Wasser aufeinandertrifft, am Zusammenfluss zweier großer Flüsse. Die Wintersonne steht tief an einem bleichen Himmel. Du wählst einen Weg und folgst dem schmaleren Fluss in Richtung Norden, wobei er sich durch historische Plätze mit klangvollen Namen schlängelt – Bartram’s Garden, Point Breeze, Grays Ferry. Du fährst an tristen Reihenhäusern vorbei, an der erhabenen Stadt, den Bootshäusern und dem Kunstmuseum, an den Güterbahnhöfen, dem East Park Reservoir und der Strawberry Mansion Bridge. Du fährst Richtung Nordwesten und flüsterst in deinem Kielwasser alte Zauberformeln – Miquon, Conshohocken, Wissahickon. Jetzt verlässt du die Stadt und verweilst zwischen den Phantomen von Valley Forge, Phoenixville, Spring City. Der Schuylkill schlängelt sich in die Geschichte hinein, die Gedenkstätten der Nation. Es ist dennoch der verborgene Fluss.
Bald verabschiedest du dich von dem Hauptstrom und betrittst einen Ort der Stille, einen schmalen, gewundenen Nebenarm, der nach Südwesten fließt. Die Wasserstraße wird schmaler, breiter, wieder schmaler – ein verschlungenes Gewirr aus Stein und Schiefer und Weiden.
Plötzlich treten aus dem winterlichen Dunst ein paar Häuser hervor. Eine Bogenbrücke überspannt den Kanal, einst groß, jetzt vernachlässigt und verfallen, die bunten Farben abgeblättert.
Du siehst ein altes Gebäude, das einst ein stolzes Bootshaus war. Der Geruch der Schiffsfarbe und des Lacks hängt noch in der Luft. Du betrittst einen Raum. Es ist ein gemütlicher Raum mit tiefen Schatten und spitzen Kanten.
In diesem Raum steht eine Werkbank. Auf der Werkbank liegt eine alte, aber scharfe Säge. Daneben ein aufgewickelter blau-weißer Strick.
Du siehst ein Kleid, das auf einer Bettcouch liegt und wartet. Es ist ein wunderschönes Kleid in einem blassen Erdbeerrot und mit einer gekräuselten Taille. Ein Kleid für eine Prinzessin.
Du fährst weiter durch ein Labyrinth
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