Byrne & Balzano 3: Lunatic
die Akte raus, machen ein paar Vermerke und stellen sie wieder zurück. So geht das nicht, Mann. Das ist einfach nicht fair. Sie war noch ein Kind.«
»Weiß Richie von deinem Plan?«, fragte Byrne.
»Nein. Ich sag’s ihm, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
Sie schwiegen einen Augenblick und lauschten dem Lärm und der Musik. Als Byrne den Blick zu Brigham hob, sah er wieder den abwesenden Blick und das Schimmern in Brighams Augen.
»O Gott«, flüsterte Brigham. »Sie waren die hübschesten kleinen Mädchen, die du jemals gesehen hast.«
Byrne konnte nichts anderes tun, als eine Hand auf die Schulter des Mannes zu legen.
Eine ganze Weile blieben sie so stehen.
Byrne verließ die Kneipe und bog in die Dritte Straße ein. Er dachte an Richie DiCillo und fragte sich, wie oft Richie, von Wut und Kummer zerfressen, seine Dienstwaffe in der Hand gehalten und mit sich gerungen hatte, ob er sich eine Kugel in den Kopf schießen sollte. Hatte Richie nahe davor gestanden? Byrne selbst müsste sehr genau nach einem Grund suchen, um weiterzumachen, würde jemand ihm seine Tochter entreißen.
Byrne hatte etwas gespürt, als Walt Brigham ihn umarmt hatte. Byrne hatte düstere Dinge gesehen, hatte sogar etwas gerochen . Er würde es den anderen gegenüber niemals zugeben, nicht einmal Jessica gegenüber, der er in den letzten Jahren fast alles erzählt hatte. Nie zuvor waren Gerüche Teil seiner übersinnlichen Wahrnehmungen gewesen.
Als er Walt Brigham umarmt hatte, hatte er Kiefernnadeln gerochen. Und Rauch.
Byrne setzte sich hinters Steuer, schnallte sich an, legte eine CD von Robert Johnson in den Player und fuhr in die Nacht.
Mein Gott, dachte er.
Kiefernnadeln und Rauch.
20.
D en Bauch voller Yuengling-Bier und den Kopf voller quälender Gedanken, taumelte Edgar Luna aus der Old House Tavern in der Station Road. Es waren dieselben quälenden Gedanken, die ihn seit einer halben Ewigkeit plagten, weil seine Mutter sie ihm die ersten achtzehn Jahre seines Lebens tagtäglich eingeimpft hatte: Du bist ein Loser. Aus dir wird nie etwas. Du bist dumm, genau wie dein Vater.
Jedes Mal, wenn er ein Bier zu viel getrunken hatte, kam das alles wieder hoch.
Der Wind fegte über die fast menschenleere Straße. Seine Hosenbeine flatterten, und seine Augen tränten so stark, dass er kurz stehen bleiben musste. Er wickelte sich den Schal ums Gesicht und lief Richtung Norden in den Sturm hinein.
Edgar Luna war ein kleiner Mann mit schütterem Haar und Aknenarben. Er hatte schon unter fast jeder Krankheit gelitten, die man in den mittleren Lebensjahren bekommen konnte: Dickdarmkatarrh, Ekzeme, Zehennagelpilz, Zahnfleischentzündung. Er war gerade fünfundfünfzig geworden.
Er war nicht betrunken, aber es fehlte nicht viel. Die neue Kellnerin, Alyssa oder Alicia oder wie immer sie hieß, hatte ihn zum zehnten Mal abblitzen lassen. Ach, scheiß drauf! Die Kuh war sowieso zu alt für ihn. Edgar stand auf jüngere Mädchen. Viel jüngere. So war es immer schon gewesen.
Die Jüngste – und Schärfste – war seine Nichte Dina gewesen. Mann, wie alt sie jetzt wohl war? Vierundzwanzig? Dann wäre sie zu alt. Viel zu alt.
Edgar bog um die Ecke in die Sycamore Street ein. Sein hässlicher Bungalow begrüßte ihn. Ehe er den Schlüssel aus der Hosentasche gezogen hatte, hörte er ein Geräusch.
Er drehte sich ein wenig unsicher um und geriet kurz ins Wanken. Hinter ihm standen zwei Gestalten, die sich gegen die Weihnachtsbeleuchtung auf der anderen Straßenseite abzeichneten. Ein großer und ein kleinerer Mann, beide in Schwarz gekleidet. Der Große mit dem blonden, kurz geschnittenen Haar und den glatt rasierten Wangen sah irgendwie verrückt aus, fand Edgar Luna, ein bisschen wie eine Schwuchtel. Der Kleinere hatte ein Kreuz wie ein Kleiderschrank.
Edgar war ganz sicher, dass die Typen nicht aus Winterton stammten. Er hatte sie noch nie gesehen.
»Wer seid ihr denn?«, fragte er mit schwerer Zunge.
»Ich bin Malachias«, erwiderte der große Mann.
Sie hatten die fünfzig Meilen in einer knappen Stunde zurückgelegt. Jetzt waren sie im Keller eines leeren Reihenhauses in Nord-Philadelphia, in der Mitte eines Blocks baufälliger Reihenhäuser. Im Umkreis von fast dreißig Metern brannte nirgendwo ein Licht. Den Lieferwagen hatten sie in einer Gasse hinter dem Häuserblock geparkt.
Roland hatte das Haus sorgfältig ausgewählt. Das Gebäude sollte bald saniert werden; er wusste, dass in den Kellern Bodenplatten aus
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