Cäsar Birotteau (German Edition)
die er von seiner Mutter geerbt hatte, der, wie die Leute sagen, ein goldenes Herz eigen war. Cäsar erhielt monatlich sechs Francs, freie Kost und eine dürftige Kammer im Giebel neben der der Köchin. Die Kommis, von denen er das Verpacken, die Ausführung von Bestellungen, das Kehren des Ladens und der Gasse erlernte, trieben ihren Scherz mit ihm, während sie ihn ausbildeten, wie das in einem Laden so Sitte ist, wo Hänselei ein Hauptelement der Erziehung ist. Herr und Frau Ragon behandelten ihn wie ein Haustier. Niemand beachtete, daß er unermüdlich tätig war, obgleich ihm abends seine durch das Straßenpflaster zerschundenen Füße schrecklich brannten und er sich am ganzen Körper wie zerschlagen fühlte. Diese rauhe Schule des brutalen Egoismus der Großstadt bewirkte, daß ihm das Pariser Leben sehr hart ankam. Wenn er abends seiner Heimat gedachte, wo jeder Bauer in Gemütlichkeit arbeitete, wo der Maurer jeden Stein erst hundertmal betrachtet und wendet, ehe er ihn einsetzt, wo die Faulheit noch die Schwester der Arbeit ist, weinte er. Aber schließlich schlief er ein, ohne daß er dazu kam, Fluchtpläne zu schmieden. Denn am nächsten Morgen harrten seiner wiederum tausend Gänge und er gewöhnte sich schließlich an seine Pflicht wie ein Kettenhund. Wenn er sich mitunter beklagte, so lachte ihn der erste Kommis, Cölestin Crevel, gutmütig aus.
»Siehst du, mein Junge«, sagte der, »in der ›Rosenkönigin‹ ist nicht alles rosig, und die gebratenen Tauben fliegen dir nicht ins Maul; du mußt sie erst jagen, dann fangen und dir auch noch die Butter verdienen, mit der du sie braten willst!«
Die Köchin, eine stattliche Tochter der Picardie, ließ sich die besten Bissen am liebsten selber schmecken und geruhte mit Cäsar nur dann zu sprechen, wenn sie sich darüber grämte, daß ihr die Herrschaft zu sehr auf die Finger sah. Als dieses Mädchen im Anfang von Cäsars Lehrzeit einmal sonntags zu Hause zu bleiben genötigt war, knüpfte sie mit ihm ein Gespräch an. Dem armen Bauernjungen, der nur aus Zufall die ersten Klippen seiner Laufbahn glücklich umsegelt hatte, kam die sonntäglich saubere Ursula allerliebst vor. Wie alle heimatlosen Knaben verliebte er sich in das erste beste Frauenzimmer, das ihm zulächelte. Sie nahm Cäsar unter ihre Fittiche und nun entspann sich eine Art Herzensbund, über den die Kommis unbarmherzig spotteten. Zum Glück tauschte die Köchin nach zwei Jahren unsern Cäsar gegen einen Landsmann aus, der in der Picardie durchgebrannt war, um nicht Soldat werden zu müssen, und sich in Paris zu verbergen suchte. Er war zwanzig Jahre alt, besaß ein paar Hufen Land und ließ sich von Ursula heiraten.
Während dieser zwei Jahre hatte die Köchin ihren kleinen Freund tüchtig herausgefüttert und ihn in verschiedene Geheimnisse des Pariser Lebens, besonders in seinen Tiefen, eingeweiht. Aus Eifersucht brachte sie ihm eine tiefe Abscheu gegen Spelunken und schlechte Lokale bei, deren Gefahren ihr nicht unbekannt waren. Im Jahre 1792 waren Cäsars Füße bereits an das Straßenpflaster gewöhnt, ebenso seine Schultern an das Kistentragen und sein Geist an die Gerissenheit der Pariser. Als ihm Ursula den Laufpaß gab, fand er sich daher schnell in sein Schicksal. Sie hatte sowieso seiner Sentimentalität nicht recht entsprochen. Grob und schamlos, falsch und gierig, egoistisch und trunksüchtig, hatte sie Birotteaus Unschuld an sich gerissen, ohne ihn dafür genügend zu entschädigen. Der arme Junge bedauerte zuweilen, daß er in naiver Liebe an ein Geschöpf gefesselt war, mit dem er innerlich nichts gemein hatte. In dem Augenblick, als er wieder der freie Herr seines Herzens wurde, war er erwachsen, wenngleich er erst sechzehn Jahre alt war. Sein Verstand hatte sich im Umgang mit Ursula und unter den Späßen der Kommis entwickelt. Nunmehr durchschaute er das Wesen des kaufmännischen Lebens mit Augen, hinter deren Einfalt sich Schlauheit verbarg. Er beobachtete die Kunden, erbat sich in geschäftslosen Augenblicken Erklärungen über die Waren, deren Qualität und Lagerort er sich merkte, und im Handumdrehen kannte er die einzelnen Artikel, ihre Preise und Auszeichnungen besser als sonst ein Neuling. Herr und Frau Ragon gewöhnten sich seitdem an seine Brauchbarkeit.
An dem Tage, da die schreckliche Aushebung des Jahres II auch das Haus des Bürgers Ragon heimsuchte, rückte Cäsar Birotteau zum Zweiten Kommis auf. Er bekam nunmehr fünfzig Francs Monatsgehalt und durfte
Weitere Kostenlose Bücher