Cäsars Druide
alles, woran man bisher geglaubt hat. Im Morgengrauen fand ich mich inmitten von klagenden Frauen und weinenden Kindern. Wir waren zum Tod verdammt. Langsam schritten wir unter dem Stadttor hindurch in unser Verderben. Viele Alte waren krank und schwach. Sie mußten von den Frauen gestützt werden. Ich hatte genug damit zu tun, das Gleichgewicht zu halten. Von allen Seiten wurde man geschubst. Es wurde geflucht und geweint. Der eine bettelte um Essen, der andere verlangte nach einer Decke. Schließlich trat ich in ein Loch und fiel der Länge nach hin. Ich blieb liegen. Mein Onkel Celtillus hatte mich gelehrt, wieder aufzustehen. Aber ich blieb liegen. Vorne war der innere Verteidigungsring, mit dem Cäsar Alesia eingeschlossen hatte. Es gab kein Entkommen. Die kretischen Bogenschützen standen sicher hinter ihrem Palisadenzaun und streckten jeden nieder, der dem Graben zu nahe kam. Ich setzte mich ins Gras und drückte Lucia an meine Brust. Der Troß der Ausgestoßenen näherte sich dem römischen Belagerungsring. Als die Legionäre sahen, daß im Niemandsland zwischen der Stadtmauer und ihrer inneren Befestigungsanlage keine waffenfähigen Männer waren, wurden sie regelrecht wütend. Mir schien, als hätten sie Mitleid mit den Ausgestoßenen. Die Frauen flehten, man möge sie doch ziehen lassen. Doch Cäsar gab offenbar Befehl, keinen einzigen Kelten durchzulassen. Hier und da sah ich, wie ein Legionär etwas über die Palisaden warf. Wie Hyänen stürzten sich Frauen und Kinder auf das Stückchen Brot. Die Alten versuchten es erst gar nicht. Schlimmer als der Hunger war der Durst. Wir würden verdursten, bevor wir verhungerten.
In der nächsten Nacht starben bereits viele Alte und Kranke. Auch die Säuglinge. Vercingetorix hatte mir eine warme Tunika, einen dicken, rotkarierten Wollmantel, ein Stück Brot und einen Trinkschlauch mitgegeben. Heimlich, im Schutze der Dunkelheit, trank ich einen kleinen Schluck Wasser. Mit der nassen Hand befeuchtete ich Lucias Schnauze. Sie lag neben mir und rührte sich kaum noch.
Ich hörte auf, die Tage und Nächte zu zählen. Mühsam schleppte ich mich auf allen vieren vorwärts. Ich wollte raus hier, nichts als raus. Lucia folgte mir. Sie war mager geworden. Und schwach. Meine Arme knickten ein, und ich schlug mit der Stirn an einen Stein. Ich richtete mich auf. Die Sonne blendete mich. Über mein linkes Auge floß Blut. Offenbar war die Wunde größer, als ich dachte. Ich mußte sie auswaschen. Ich brauchte Wasser. Dringend. Ich hatte Durst. Nach einigen Tagen läßt der Hunger nach. Aber der Durst wird immer drängender. Zornig riß ich mein rechtes Bein hoch, winkelte es an, und versuchte aufzustehen. Mit einem Ruck stand ich plötzlich auf beiden Beinen. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich hörte Stimmen, aber ich weiß nicht, woher sie kamen. Ich drehte mich um und sah Alesia. Und davor, vor den Stadtmauern, lagen Tausende von Menschen. Im Sterben. Ich wollte es hinter mich bringen. Onkel Celtillus sollte dem Fährmann sagen, daß ich komme. Ich riß mich von Alesia los und stolperte vorwärts. Ich sprach langsam auf Lucia ein, erzählte ihr von Massilia. Jaja, Massilia. Ich wischte mir das Blut von der Stirn und leckte meine Finger. Ich torkelte weiter. In der Ferne sah ich das Glitzern von Metall. Ich hörte wütende Schreie und riß die Augen auf. Vor mir erhob sich ein hölzerner Turm in den Himmel. Davor der Graben. Eine tote Frau lag darin. Selbst im Tod hielt sie ihren Säugling noch fest. Ich wollte nicht in den Graben stürzen. Ich schaute nochmals zum Turm hoch. Mir war, als hätte mir jemand gewinkt. War es möglich? War das tatsächlich der Primipilus der zehnten Legion? Der Name war mir entfallen. Plötzlich bohrte sich ein Pfeil ein paar Schritte vor mir in den Boden. Ich war bereit. Ich ging noch ein paar Schritte weiter. Jetzt stand ich genau vor dem Graben. Und vor mir war dieser Pfeil. Er war in der Mitte ein bißchen dick. Brot. Brot! Blitzschnell griff ich danach. Doch im gleichen Augenblick spürte ich eine furchterregende Übelkeit. Ich erinnere mich, daß alles um mich herum dunkel wurde. Ich brach zusammen und verlor das Bewußtsein. Leblos rollte ich in den Graben.
Wasser. Ich öffnete den Mund. Jemand hatte meinen Oberkörper aufgerichtet. Er kniete hinter mir und flößte mir Wasser ein. Wasser.
»Nacht?« murmelte ich. »Ist es Nacht?«
»Ja, Herr«, antwortete eine Stimme, »es ist Nacht. Lucius Speratus Ursulus, der Primipilus der Zehnten,
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