Cagot
nie verheiratet. Wohlhabend, lebte allein … ist seit sechzig Jahren in England, keine nahen Verwandten. Aber das ist auch schon alles, was wir bisher wissen. Wollen Sie den Tatort sehen?«
»Wenn Sie hinterher keine, äh, Pizza essen gehen wollen.«
Sanderson rang sich ein sehr verhaltenes Lächeln ab.
Sie betraten das Zimmer.
»Die Leiche wurde gestern von der Putzfrau entdeckt«, fuhr Sanderson fort. »Eine junge Estin, Lara. Sie schüttet sich immer noch mit Wodka zu.«
Sie gingen ans Ende des Wohnzimmers. Ein Kriminaltechniker in einem weißen Overall und mit einer weißen Gesichtsmaske machte den beiden Männern Platz.
»Hier haben wir sie gefunden. Genau hier. Die Leiche wurde heute Morgen weggebracht. Sie … saß genau hier. Und? Wollen Sie sich die Fotos jetzt ansehen?«
»)a.«
Sanderson nahm einen Ordner von einem Beistelltisch und schlug ihn auf.
Auf dem ersten Foto war die ermordete alte Frau zu sehen. Sie kniete, vollständig bekleidet, auf dem Boden und hatte der Kamera den Rücken zugekehrt. Seltsamerweise trug sie Handschuhe. Simon verglich das Foto mit dem Zimmer, in dem er stand.
Dann schaute er wieder auf das Foto. Aus dieser Perspektive sah es aus, als lebte die alte Frau, als hätte sie niedergekniet, um unter dem Fernseher oder dem Sofa etwas zu suchen. Dieser Eindruck entstand zumindest, wenn man sie nur bis zum Hals aufwärts ansah.
Es war der Kopf, der Simon zusammenzucken ließ, das, was der oder die Mörder mit dem Kopf angestellt hatten.
»Was …«
Sanderson hielt ihm ein weiteres Foto hin.
»Wir haben auch eine Nahaufnahme. Da.«
Das zweite Foto war aus wenigen Zentimetern Entfernung aufgenommen. Darauf war zu erkennen, dass die gesamte Kopfhaut des Opfers abgezogen worden war, sodass die blutige weiße Schädelplatte darunter zum Vorschein kam.
»Und dann noch das hier.«
Sanderson reichte ihm ein drittes Foto.
Darauf war die abgelöste Kopfhaut zu sehen, eine blutige, in sich verknotete Masse aus faltiger Haut und langem grauem Haar, die auf dem Teppich lag; und mitten in dem Ganzen steckte ein Stab - ein Besenstiel vielleicht. Das graue Haar war fest um den Stab geschlungen, viele, viele Male verdreht und ineinander verknäult. Das also war mit »Knotung« gemeint.
Simon atmete aus, sehr langsam. »Danke. Ich glaube, das genügt.«
Er schaute sich im Zimmer um; die Blutflecken auf dem Teppich waren noch sehr deutlich sichtbar. Es war ziemlich offensichtlich, wie der Mord verübt worden war: grotesk - aber offensichtlich. Der oder die Täter hatten die alte Frau gezwungen, vor dem Fernseher niederzuknien; dann hatten sie ihr langes graues Haar um den Stab geschlungen und diesen zu drehen begonnen, sodass es sich immer fester zu einem qualvollen Knoten aus Blut und Schmerz verknäulte und an den Haarwurzeln zerrte, bis schließlich der immer stärker werdende Zug die ganze Kopfhaut abriss.
Simon griff nach einem der letzten Fotos. Es war von vorn aufgenommen und zeigte das Gesicht der Frau. Seine nächsten Worte kamen sofort, reflexhaft.
»O mein Gott.«
Der Mund der alten Frau war zu einem gellenden und doch stummen Schrei verzerrt, der fixierte letzte Ausdruck ihrer Tortur, der Moment, in dem die Kopfhaut abgedreht wurde und wegplatzte.
Jetzt wurde es Simon endgültig zu viel. Er ließ den Ordner mit den Fotos auf den Beistelltisch fallen, drehte sich um und ging zum marmornen Kamin. Er war leer und kalt, auf dem Sims standen eine Vase mit getrockneten Gräsern und ein gerahmtes Foto irgendwelcher alter Leute. Und dazwischen lächelte ihm eine kitschige Gipsstatuette der Jungfrau Maria entgegen, die neben einem kleinen Keramikesel stand. Unwillkürlich schoss ihm das verstörende Bild seines Bruders mit blutüberströmten Händen ins Bewusstsein.
Er löschte es und drehte sich um.
»Also … Detective … diesem Besenstiel nach zu schließen … alles deutet darauf hin … sie haben so lange an ihrem Haar gedreht, bis … die Kopfhaut abgerissen wurde?«
Sanderson nickte. »Ja. Und das nennt man Knotung.«
»Woher wissen Sie das?«
»Es ist eine Foltermethode. Anscheinend war sie mehrere Jahrhunderte lang gebräuchlich.« Er blickte zu Boden. »Hat Tomasky recherchiert. Er sagt, die Knotung wurde vor allem bei Zigeunern angewendet. Und während der Russischen Revolution.«
»Dann …« Simon schauderte bei dem Gedanken an die Schmerzen der Frau. »Dann … ist sie also am Schock gestorben?«
»Nein. Sie wurde garottiert. Hier.«
Ein weiteres Foto.
Weitere Kostenlose Bücher