Cagot
Sandersons Stift deutete auf den Hals der Frau. Als sich der Journalist zu der Aufnahme hinabbeugte, konnte er schwache rote Striemen erkennen.
Es war rätselhaft, und in hohem Maße grotesk. Er runzelte abgestoßen die Stirn.
»Aber das … das ist doch vollkommen widersinnig. Wer immer das getan hat, hat die alte Frau zuerst brutal gefoltert. Und dann … sehr gekonnt … getötet. Wie kommt jemand dazu, so etwas zu tun?«
»Das ist die große Frage«, entgegnete Sanderson. »Alles reichlich mysteriös, nicht? Und da wäre noch etwas. Sie haben nichts gestohlen.«
»Wie bitte?«
»Der Schmuck ist noch oben. Er wurde nicht angetastet.«
Sie wandten sich zur Tür; Simon hatte das starke Bedürfnis, das Zimmer zu verlassen. Sanderson ging plaudernd neben ihm her.
»So … Quinn. Sie sind ein guter Journalist. Englands siebtbester Kriminalreporter!« Sein Lächeln verflog. »Nein, nein, kein Witz, mein Lieber. Deshalb habe ich Sie hergebeten - Sie stehen doch auf blutige Kriminalfälle. Wenn Sie des Rätsels Lösung haben, sagen Sie uns Bescheid.«
5
Als er benommen und mit tauben Gliedern wieder zu sich kam, waren sie beide im Freien, neben dem Eingang der Kneipe, in der Gebirgssonne. Das Mädchen blutete an der Stirn, aber nicht stark. Sie rüttelte ihn wach.
Ein Schatten ragte über ihnen auf. Es war der Barmann, der mit einem Ausdruck mitfühlender Angst nervös von einem Bein aufs andere trat.
Er sagte auf Englisch: »Amy. Miguel … ich halte ihn drinnen fest, aber du haust jetzt ab, unbedingt… hau ab, schnell…« Sie nickte. »Ja, klar.«
Wieder packte das blonde Mädchen Davids Hand. Sie zog ihn auf die Beine hoch. Sobald David stand, spürte er die Muskeln und Knochen in seinem Gesicht - alles tat weh. Aber er war nicht ernsthaft verletzt. An seinen Fingern war getrocknetes Blut, wahrscheinlich hatte er etwas abbekommen bei dem Versuch, sich - und das Mädchen - zu schützen.
»Ganz schön verrückt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss schon sagen. Danke, dass du das getan hast. Aber trotzdem ganz schön verrückt.«
»Ich bin derjenige, der sich bedanken muss.« Erstaunt wurde David bewusst, dass sie Engländerin war. »Schließlich hast zuerst du mir geholfen. Bloß … ich … ich verstehe das alles nicht. Was sollte das da drinnen?«
»Miguel. Das war Miguel.«
So viel hatte er bereits mitbekommen. Sie zog ihn die stille baskische Straße entlang, vorbei an kleinen Restaurants, die mit rac iones und gorrin lockten. Vorbei an stummen Steinhäusern mit Türmen.
David nahm seine Retterin genauer in Augenschein. Sie war schätzungsweise sieben- oder achtundzwanzig, mit einem energischen, aber hübschen Gesicht. Trotz der Schwellung und des Bluts. Und sie drängte.
»Jetzt komm schon. Beeil dich. Wo ist dein Auto? Wir müssen schleunigst weg von hier, bevor er noch vollends ausrastet. Deshalb habe ich dich von ihm wegzuziehen versucht.«
»Du meinst, dieser Irre hat noch immer nicht… genug?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das war noch gar nichts.«
»Jetzt hör aber mal.«
»Hast du noch nie von Miguel gehört? Von Otsoko?«
»Nein.«
»Otsoko ist baskisch für Wolf. Das ist sein Deckname. Sein ETA-Deckname.«
Jetzt brauchte David keine weiteren Erklärungen mehr; sie rannten zu seinem Auto und sprangen hinein.
Er schaute zu ihr hinüber. »Und wohin jetzt? Wohin soll ich fahren?«
»Egal wohin, nur weg von hier. Bloß nicht nach Lesaka. Am besten in die andere Richtung … nach Elizondo. Zu mir.«
David trat aufs Gas und fuhr los. Amy drehte sich zu ihm.
»Dort sind wir in Sicherheit. Und wir können dich erst mal sauber machen. Du siehst vielleicht aus.«
»Und du?«
Ihr Lächeln war kurz. »Danke. Hier musst du links abbiegen.«
David folgte ihren Richtungsangaben. Bei dem Gedanken an Miguel, den Wolf, krampfte sich alles in ihm zusammen. Offensichtlich hatten der Wirt und die Kneipengäste Miguel von weiterer Gewaltanwendung abgebracht; aber vielleicht überlegte es sich der Wolf noch einmal anders.
Der Wolf?
In Davids Kopf drehte sich alles vor lauter Ungereimtheiten. Was hatte das in der Bar zu bedeuten gehabt? Wer war Miguel? Wer war dieses blonde Mädchen?
Was machte sie hier?
Während er auf der schmalen Straße weiter durch die waldreiche baskische Landschaft raste, wurde ihm klar, dass sie ihm von sich aus nicht allzu viel erzählen würde. Er würde alles mühsam aus ihr herauskitzeln müssen. Doch zunächst galt es, eine andere, dringendere Frage zu
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