Calling Crystal
Aber nur ganz kurz. Und bitte lach nicht über mich, wenn mir schlecht wird.«
Er nahm die Hände hoch. »Würde ich denn so was tun?«
»Ja, das würdest du.« Ich erinnerte mich noch gut an seine Witzeleien, als ich meine Gehirnerschütterung hatte. Ich war dermaßen verärgert darüber gewesen, dass ich ihn aus unserem Hotelzimmer gejagt und darauf bestanden hatte, meine Kopfschmerzen nur durch Schlafen und ohne irgendwelche medizinischen Maßnahmen zu bekämpfen.
»Rufmörder.« Er hielt mir seine ausgestreckte Hand hin. »Ich werde nicht lachen. Großes Indianerehrenwort.«
Ich holte tief Luft und legte meine Fingerspitzen in seine Handfläche. Ich schloss meine Augen und spürte, wie sich sein Wesen meinen Arm hinaufstahl wie die Wärme aus einem Ofen an einem kalten Tag. Zunächst tat es nicht weh, aber sobald er ansetzte, mit meinem Geist in Verbindung zu treten, fing mein Hirn an, sich zu wehren, und mir drehte sich der Magen um, als würde ich in einer Achterbahn sitzen.
»Ich kann nicht!« Ich riss meine Hand weg und presste sie mir auf den Mund; vor Wut stiegen mir Tränen in die Augen. Ich hatte es ja gewusst. Diese mentalen Kunststückchen, die den anderen so leichtfielen, überforderten mich einfach. Ich war als Savant ein Reinfall auf ganzer Linie und brauchte mich gar nicht weiter als eine von ihnen zu betrachten.
»Atme einfach tief durch. Das geht gleich vorbei.« Xavs Stimme klang kein bisschen spöttisch. Er berührte mich nicht mehr, aber seine Stimme war tröstlich und half mir, mich wieder zu beruhigen.
Wir saßen für ein paar Minuten schweigend da, bis ich mich wieder im Griff hatte.
»Mir geht’s gut.« Ich blinzelte die Tränen weg, innerlich war ich noch immer am Zittern. »Und glaubst du mir jetzt?«
»Ich hab nie gedacht, dass du lügen würdest. Ich hab nur … Hör mal Crystal, du weißt, welche Gabe ich habe?«
Ich nickte.
»Sie hilft mir, gewisse Dinge zu erkennen. Ich habegespürt, dass in deinem Mentalbereich irgendwas nicht stimmt, aber mehr kann ich dazu nicht sagen, es sei denn, ich dringe tiefer ein.« Er deutete auf meinen Kopf.
Sofort tastete ich nach dem Türgriff. »Es ist okay, wirklich, Xav. Ich hab dafür jetzt keine Zeit.«
Er sprang auf seiner Seite hinaus und hielt mir die Autotür auf, noch bevor ich meine im Gurt verhedderte Handtasche befreit hatte. »Ich will dich nicht verärgern, aber du musst etwas dagegen tun. Geh zu Hause zum Arzt, zu einem, der etwas von Savants versteht, wenn du nicht willst, dass ich dich anfasse.« Er war ein bisschen sauer, aber ich wollte nun mal ganz einfach nicht, dass irgendjemand an mir herumpfuschte. Basta.
»Ja, ja, das mache ich. Ich geh zum Arzt. Danke.« Ich zog den verlängerbaren Griff meines Koffers heraus und manövrierte das schwere Ding rollend hinter mir her übers Pflaster.
»Tschüs, Crystal.«
Ich warf einen Blick zurück, er lehnte an seinem Auto und sah mich mit einem höchst seltsamen Gesichtsausdruck an. Xav und ernst – nein, das kam mir einfach nicht richtig vor. Jetzt bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun.
»Tschüs. Danke fürs Bringen.«
»Kein Problem. Pass auf dich auf.«
Ich rannte zum Terminal und wünschte, mein Koffer würde nicht dermaßen viel Radau machen, während er hinter mir her schlingerte. Ich war mir nicht sicher,warum ich so panisch war … Wahrscheinlich floh ich vor meiner Angst, er könnte herausgefunden haben, dass ich tatsächlich kein Savant war. Ich hatte schon immer geglaubt, bei mir läge irgendeine Art von Fehlbildung vor, eine Anomalie. War die Wahrheit irgendwo in meinem Hirn zu finden?
Als ich in der Schlange zur Gepäckaufgabe stand, schickte er mir eine SMS.
Hey Löwe, lass mich wissen, was der Arzt gesagt hat. Androkles.
Das war jetzt das zweite Mal, dass er diesen Androkles erwähnte. Ich googelte schnell den Namen und las die Geschichte des römischen Sklaven, der einen Dorn aus der verletzten Pranke eines Löwen entfernt. Jetzt wusste ich, wie meine Antwort lauten musste.
Grrr.
Kapitel 3
Rio d’Incurabili, Dorsoduro, Venedig
Ich betrat das Haus durch das schmale Tor auf der Kanalseite und stellte meine Einkaufstaschen auf dem kleinen Mosaik-Beistelltisch ab.
»Hey, mein Hübscher.« Ich ging in die Hocke und kraulte Nonnas alten Kater Barozzi unter dem Kinn. Dieser faule rote Feldherr der Katzenwelt hatte den Sockel unter der Tischplatte als seinen Gefechtsposten auserkoren, von dem aus er den Beagle von Signora Carriera bedrohlich
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