Calling Crystal
wahrgenommen –, denn Contessa Nicoletta war ebenfalls ein Savant. Auf den Arm ihres Bootsführers gestützt wackelte sie auf die Kirche zu, um die Messe zu besuchen. Rocco fing an zu bellen und lenkte die Aufmerksamkeit in meine Richtung. Ich stand auf (man saß nicht, wenn eine italienische Adlige sich dazu herabließ, einen zu grüßen). Erst tätschelte die Contessa Rocco den Rücken, dann wandte sie sich mir zu. »Crystal Brook, richtig? Wie geht es dir, meine Liebe?«, fragte sie mich auf Italienisch. Der Bootsführer blieb stehen, damit sie sich mit mir unterhalten konnte, seine Augen waren hinter den verspiegelten Gläsern seiner Sonnenbrille verborgen. Er musste ein Ausbund an Geduld sein, um mit den vielenZwischenstopps der Contessa klarzukommen. Sie hatte wahnsinnig viele Bekannte in dieser Stadt und er hatte sich für solche Momente eine ausdruckslose Miene antrainiert.
»Mir geht es gut, danke. Ich arbeite jetzt für Signora Carriera.«
»Ach ja, ich habe gehört, sie hat einen großen Auftrag von dieser Filmfirma bekommen. Wie aufregend!«
Bislang war die Aufregung allerdings von dem geradezu gigantischen Arbeitspensum gedämpft worden, das mit dem Anfertigen der Kostüme einherging. Ich hatte noch nicht mal den Hauch von Hollywood-Glamour zu sehen bekommen. »Und wie geht es Ihnen, Contessa Nicoletta?«
»Sempre in gamba.« Ein lustiger Satz, der sich ungefähr mit ›noch immer auf Draht‹ übersetzen ließ. Als sie lächelte, wurde ihr scharf geschnittenes Gesicht von Falten überzogen, ihre blassen blauen Augen glänzten. Ihre Züge erinnerten mich an Maria Callas, die Operndiva: eine kräftige Nase, noch immer dunkle Augenbrauen und die Haltung einer Königin, auch wenn ihr Körper leicht gebeugt war. »Und was gibt es Neues von deiner zauberhaften Schwester? Ich dachte, sie wäre längst zurück aus Amerika.«
»Nein, sie ist noch dort geblieben. Haben Sie es noch nicht gehört? Sie hat ihren Seelenspiegel gefunden.«
»Oh Himmel!« Die Contessa klatschte in die Hände, bedrohlich schwankend. Ich war froh, dass der Bootsführer sie noch immer untergehakt hatte. »Oh, ich freue mich für sie! Wer ist denn der Glückliche?«
»Sein Name ist Trace Benedict. Er gehört einer Familie von Savants an, die in Colorado lebt. Anscheinend sind sie in Polizeikreisen sehr geachtet. Haben Sie schon mal von ihnen gehört?«
Der Gesichtsausdruck der alten Dame war einen Moment wie versteinert, während sie in ihrem bereits leicht lückenhaften Gedächtnis nach der entsprechenden Information kramte. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Ah ja, ich habe von ihnen gehört. Wie … interessant. Ich kann nicht sagen, ob sie gut genug sind für Diamond – ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das irgendjemand ist.«
»Ich weiß, was Sie meinen, aber er passt wirklich hervorragend zu ihr.«
Die Glocken fingen an, zur Messe zu läuten. Die Contessa drückte den Arm des Bootsführers, um ihm zu signalisieren, dass sie bereit war, die Kirche zu betreten.
»Richte ihr bitte meine besten Wünsche aus, Crystal. Wir sehen uns, wenn ich mein Kostüm abhole.« Ihr Karnevalsfest war berühmt und lockte aus aller Welt Vertreter der High Society an. »Das heißt, wenn mich Signora Carriera dieses Jahr noch in ihrem Kalender unterbringen kann.«
Ich lächelte und versicherte ihr, dass das kein Problem sein würde. Niemand wäre so dämlich, sie zu brüskieren, auch dann nicht, wenn eine Filmcrew in der Stadt war. Regisseure kamen und gingen; Contessa Nicoletta war für die Ewigkeit.
Rocco und ich joggten zurück zu unserem Haus. Alswir schließlich hineingingen, war Signora Carriera auch schon da. Mir sank der Mut, als ich die Stoffberge sah, die sie mitgebracht hatte. Arbeit mit nach Hause zu nehmen war eine üble Angewohnheit von ihr, und da ich nur einen Stock über ihr wohnte, ging sie einfach davon aus, dass ich bereitwillig half. Rocco kannte solche Ängste nicht: Er hüpfte freudig auf sein Frauchen zu, sprang ihr um die Beine und leckte ihr die Finger. Die Signora, eine gertenschlanke Frau mit blonden Strähnchen in den Haaren, verstand sich hervorragend darauf, die Tatsache zu verschleiern, dass sie bereits Anfang sechzig war. Sie schüttelte schwungvoll ein Stück herrlichen Samtstoffs aus, dass die an einer strassbesetzten Kette hängende Brille gegen ihre Brust schlug.
»Wie war dein Spaziergang?«, fragte sie. Ich vermutete einfach, dass sie mich meinte, obwohl ihre Aufmerksamkeit mehr Rocco
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