Calling Crystal
die Spitze von Dorsoduro herum und hielten auf das Wahrzeichen der Stadt zu, den Glockenturm auf dem Markusplatz. Er ragte über den Dächern auf wie eine viereckige Rakete auf einer sehr kunstvollen Startplattform. Man muss sich das Zentrum von Venedig ein bisschen so vorstellen wie ein Yin-und-Yang-Zeichen. Der berühmte Markusplatz und der Dogenpalast liegen in dem großen schwarzen Bereich der Yang-Seite; ich lebe in der äußersten Spitze des weißen Yin-Teils. Die geschwungene Linie in der Mitte ist der Canale Grande, der die beiden Hälften teilt. Es gibt in etwa gleicher Entfernungvoneinander drei Brücken, mit der berühmten Rialto-Brücke in der Mitte, die beide Seiten miteinander verbinden.
Wenn man sich auskennt (und es ist eine Tatsache, dass sich Ortsfremde auch mit einem Stadtplan in unserem Straßenlabyrinth verirren), kann man in zwanzig Minuten beinahe alle berühmten Plätze erlaufen oder man springt in einen Wasserbus, genannt Vaporetto, und ist in zehn Minuten dort.
Ich brauchte nicht lange, um das Ende der Zattere zu erreichen. Ich setzte mich auf die Stufen der Kirche Santa Maria della Salute und knuddelte Rocco kurz durch. Mir gegenüber war die Spitze vom Markusturm zu sehen, vergoldet von der untergehenden Sonne. Der Abend legte sich auf die Lagune, ein atemberaubendes Spektakel, was sich den Touristen da oben bot. Ich fragte mich, ob irgendeiner von ihnen sein Fernglas auf mich gerichtet hielt. Ich winkte – nur für alle Fälle.
Vielleicht sollte ich noch mal überdenken, ob ich nicht doch allmählich den Verstand verlor?
Selbst wenn man hier lebt, ist es schwierig, Venedig unvoreingenommen zu betrachten. Die Stadt ist dermaßen oft von Schriftstellern, Künstlern und Filmemachern beschrieben worden, dass sie mittlerweile einem wunderschönen handgemachten Boot gleicht, das in der adriatischen Lagune im Wasser liegt und mit einer dicken Schicht Seepocken überzogen ist. Von Zeit zu Zeit muss man es aus dem Wasser hieven und alle Ablagerungen bis auf die Planken abkratzen, um seine wahre Schönheit wieder zum Vorschein zu bringen.Doch für mich ist dieser Ort perfekt, auch wenn er vermutlich aufgrund des steigenden Meeresspiegels infolge globaler Erderwärmung das Ende des Jahrhunderts nicht miterleben wird: sonnige Plätze, krächzende Papageien in den Fenstern, enge, verwinkelte Gassen, verborgene Winkel; Scharen von Arbeitern, Künstlern und Studenten, die die Stadt zusammenhalten wie die Glieder einer Kette; Touristenströme, die jeden Tag an- und abschwellen. Venedig ist ein unkomfortabler Wohnort – teuer und isoliert – also haben wir alle einen triftigen Grund, hier sein zu wollen. Meiner war meine Familie; die glücklichen Erinnerungen an Nonna, aber auch der Wunsch, an einem einzigartigen Ort zu leben, der meine Vorstellungskraft beflügelte. Diamond empfand es genauso, obwohl wir nie richtig darüber gesprochen hatten. Wir beide liebten Venedig einfach – ein Gefühl, das ich noch nie für eine andere Stadt empfunden hatte.
Ein privates Schnellboot näherte sich der Salute-Anlegestelle, das weiße Kielwasser vom Sonnenuntergang in Rosa getaucht. Ich beobachtete, wie der stämmige Bootsführer in einer schicken dunkelblauen Uniform einer ganz in Schwarz gekleideten kleinen Frau ans Ufer half. Ich erkannte sie natürlich, jeder, der ein paar Jahre in Venedig wohnte, kannte sie. Contessa Nicoletta gehörte eine der kleinen Inseln nahe des Lido, die lange, schmale Nehrung zwischen Venedig und der Adria. Die Lagune war voll von solchen Enklaven, einige waren in früheren Zeiten isolierte Hospitäler gewesen, andere klösterliche Gemeinschaften. Die Insel, auf derdie Contessa lebte, war nicht weit von hier entfernt, in der Nähe von Elton Johns Haus und dem exklusiven Hotel, wo die Stars zu den im September stattfindenden Filmfestspielen abstiegen. Man munkelte, diese Insel sei ein kleiner Juwel, perfekt gelegen, um in die Stadt zu kommen, und doch war die Contessa in ihrem großen Haus dort vollkommen ungestört. Nur sehr alte italienische Familien oder Rockstars besaßen solch ein Anwesen. Man konnte von den Stufen der Kirche aus nur einen Blick auf das Dach und die umgebenden Bäume erhaschen; es blieb ein Geheimnis und war für mich so verlockend geworden wie der hinter einer Mauer verschlossene Garten für Mary Lennox in Der geheime Garten .
Die alte Dame kannte mich auch – oder zumindest pflegte sie freundschaftlichen Umgang mit Diamond und hatte mich deshalb am Rande
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