Calling Crystal
anfauchte und abschätzig zu den Vögeln hochstarrte, die schon längst spitzgekriegt hatten, dass er viel zu träge war, um sie zu jagen. Ich konnte Rocco in der Parterrewohnung bellen hören. Die Signora hatte mich früh in den Feierabend geschickt (was bei ihr hieß: noch bei Tageslicht), um für sie mit ihm Gassi zu gehen. Ich kramte meine Schlüssel hervor. »Sei gewarnt, Barozzi, zehn Sekunden, dann wird Rocco von der Leine gelassen.«
Barozzi schloss die Augen. Er war zu Recht vollkommen unbeeindruckt: Roccos Vorstellung von einemscharfen Hund war, eine Salve hysterischen Gebells rauszulassen. Beim leisesten Anzeichen der Gegenwehr seitens der Katze floh er sofort Schutz suchend zu mir. Die Hunde in Venedig sind aufgrund der Wohnraumsituation meistens eher klein, aber die Katzen werden groß und dick, denn die Stadt ist ein Paradies für Mäuse und es gibt keine Autos; die natürliche Ordnung ist hier auf den Kopf gestellt.
Ich öffnete die schweren Schlösser an der Wohnungstür unserer Nachbarin und ließ den Beagle heraus, damit er schon mal eine Runde im Garten herumschnüffeln konnte, während ich die außen am Gebäude befindliche Treppe zu unserer Wohnung im zweiten Stock hinaufstieg. Je höher man kommt, desto neuer wird Venedig: Signora Carrieras Wohnung war spätes Mittelalter, schwere Holzbalken und düstere Räume. Unsere Wohnung hatte man später hinzugefügt und war erst ein paar Hundert Jahre alt, mit hohen Decken und viel Licht. Als ich die Einkäufe auf den Küchentresen stellte, blickte ich aus dem Fenster hinaus in unseren kleinen Innenhof mit seinen vollgehängten Wäscheleinen, dem winzigen Patio und den vielen Pflanzenkübeln an der hohen Mauer und dann weiter zum Canale della Giudecca, dem breiten Streifen Wasser, der die Lagunenstadt Venedig von ihren vorgelagerten Inseln trennte. Die Sonne ging hinter den Brücken und Dächern des gegenüberliegenden Vororts Giudecca unter und nahezu waagerechte Lichtstrahlen in Apricot fielen auf die blassen Küchenwände und erinnerten mich daran, dass mir nicht mehrviel Zeit blieb, wenn ich Rocco noch im Hellen ausführen wollte.
Ich wechselte meine Klamotten und zog schwarze Laufshorts und ein weißes T-Shirt an, meine schicken Pumps, die ich zur Arbeit trug, tauschte ich gegen ein Paar Turnschuhe. Xavs Warnung von letzter Woche, dass ich einen Arzt aufsuchen solle, hatte mich dazu bewogen, mehr auf meine Fitness zu achten und mit dem Laufen zu beginnen. Sehr zu meiner eigenen Überraschung machte es mir Spaß. Und es gab mir eine gute Ausrede, nicht zum Arzt zu gehen. Ohne Diamond, die mir im Nacken saß, würde ich nie auch nur einen Fuß in ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis setzen. Beim Jogging fühlte ich mich gut, warum sollte mir also irgendetwas fehlen?
Ich hatte Glück, dass ich in einer der wenigen Straßen Venedigs wohnte, wo man auf gerader Strecke joggen konnte. Der breite Gehwegstreifen, genannt die Zattere, der entlang des Kanalufers verlief, gab eine ordentliche Laufbahn ab und war nicht so überfüllt von Touristen. Ich knuddelte meine Haare mit einem Zopfgummi zusammen und wärmte mich erst mal mit ein paar Dehnübungen auf, versuchte, die Leere in der Wohnung zu ignorieren.
Ich hatte noch nie zuvor allein gewohnt, erst seit ich aus Denver zurückgekehrt war. Ich hatte im Internat immer andere Mädchen oder Lehrer um mich gehabt und danach war ich bei Diamond eingezogen. Es kam mir so vor, als würde ich bloß spielen, erwachsen zu sein und mein eigenes Leben zu führen, doch dann ertappteich mich dabei, wie ich die Telefonrechnung bezahlte oder den Kühlschrank füllte, alles Dinge, die normalerweise Erwachsene taten. Ich war auf ihre Seite hinübergerutscht, während ich mich innerlich noch wie ein Teenager fühlte. Und wenn ich meine Chefin so richtig gründlich satt hatte, konnte ich noch nicht mal einen anständigen Trotzanfall hinlegen, denn es war niemand da, der zusammenfuhr, wenn ich mit der Tür knallte oder eine Schimpftirade losließ. Also hatte ich angefangen, mit Tieren zu reden. Aber wenigstens erwartete ich nicht, dass sie mir antworteten. Ich mochte zwar allmählich exzentrisch werden, geisteskrank war ich jedoch nicht.
»Komm, Rocco. Los geht’s!« Ich hüpfte die Stufen hinunter und meine Laune hellte sich schlagartig auf angesichts seiner bedingungslosen Freude, die er mit flatternden toffeefarbenen Ohren und hochgereckter weißer Schnauze zum Ausdruck brachte. Wir rannten entgegen dem Uhrzeigersinn um
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