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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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entschuldigen Sie das Benehmen meiner Tochter.«
    Ich flog die Einfahrt hinunter und bog ab auf den Wildpfad, der durch dichtes Gestrüpp hindurch zum Fluss führte. Ich sprang wie ein Reh und war schnell wie ein Fuchs. Nie zuvor hatte ich mich so stark gefühlt, nie war ich so gerannt.
    »Es ist da!«, brüllte ich. »Es ist da! Die Nachricht ist gekommen! Großpapa!«
    Aber er war nicht an der kleinen Bucht, an der ich ihn vermutet hatte. Also rannte ich weiter nach Süden, immer am Fluss entlang, und rief seinen Namen. Der nächste Ort, an dem ich nach ihm suchte, waren die schmalen Klippen oberhalb der Insel, aber auch dort war er nicht. Nun schlug ich den Weg zum Stauwehr ein, das zur Cotton Gin gehörte und gute fünf Minuten entfernt lag. Fast hätte ich geschrien vor Enttäuschung. Immer hatte ich gewusst, wo ich ihn finden konnte, und jetzt das!
    Ein aufgeschreckter Rotschwanzbussard zeterte von seiner Eiche herab. Ich lief immer weiter, war aber so aus der Puste, dass ich nicht mehr rufen konnte. Nur im Kopf sang ich im Takt zum Stampfen meiner Füße: Großpapa – Großpapa – Großpapa. Immer weiter lief ich, mitten durch eine Rotte wilder schwarzer Schweine hindurch, die im Wald nach Pekannüssen suchten und sie empört verstreuten.
    An der Cotton Gin angekommen, traf ich auf Mr. O’Flanagan, der Polly ins Freie gebracht hatte, damit sie beide ein bisschen frische Luft schöpfen konnten. Er stand am steilen Ufer oberhalb der Wasserturbinen, zog genüsslich an seiner Zigarre und schaute über seinen gewaltigen Bauch hinweg auf den Fluss unter ihm. Polly hockte mit geschwellter Brust da, und als ich tief Luft holte, starrte er mich böse aus seinen gelben Augen an.
    »Haben Sie meinen Großvater gesehen, Sir?«, stieß ich aus. Doch nein, das hatte er nicht, das sah ich ihm sofort an.
    »Ist irgendetwas passiert?«, rief er erschrocken. »Was ist los?«
    Ich flitzte quer über die Straße zum Zeitungsbüro, stieß die Tür auf und rannte gleich weiter in die Telefonvermittlung, wo Maggie Medlin am Schaltpult stand, ein Sandwich aß und mich erschrocken ansah.
    »Haben Sie meinen Großvater gesehen?«, krächzte ich.
    Sie musste erst schlucken, das dauerte einen Moment, dann sagte sie: »Nein, heute noch nicht. Ist alles in Ordnung?«
    Ich drehte mich um und prallte mit dem Bauch von Mr. O’Flanagan zusammen, der hinter mir hergekommen war. Maggie rief mir aus ihrem Büro hinterher: »Soll ich den Arzt rufen?«
    Mr. O’Flanagan stellte sich mir in den Weg. »Calpurnia, ist jemand verletzt?«, wollte er wissen. Ich duckte mich und versuchte, mich rechts oder links an ihm vorbeizudrücken, aber er duckte sich ebenfalls mal rechts, mal links. Für einen so dicken Mann bewegte er sich bewundernswert flink. Dann packte er mich an den Schultern, schüttelte mich und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen.
    »Jetzt sag schon, Calpurnia: Bist du verletzt? Oder sonst jemand?«
    Ich stand nur da und schnappte nach Luft. Mit einem Mal fühlte ich mich erschöpft und überwältigt. Ich fühlte mich … verlassen. Was war aus unserer gemeinsamen Zeit geworden? Wie hatte ich zulassen können, dass sie verloren ging? Wieso hatte ich nicht für sie gekämpft ? Und wo war er heute, an diesem Tag aller Tage? Immer hatte ich gewusst, wo ich ihn finden würde, wenn ich ihn brauchte. Und nun war er losgegangen, um in einem anderen als unseren üblichen Revieren zu sammeln, in einem Gebiet, von dem ich nichts wusste und wo ich ihn nicht finden konnte. Einem geheimen, privaten Gebiet. Wo er botanisieren ging, ohne mich.
    Frage fürs Notizbuch: Wieso sollte er das tun? Antwort: Weil er Calpurnias kindische Gesellschaft leid war und lieber allein sein wollte. Stimmt’s, Calpurnia? War es das?
    »Niemand ist verletzt, Sir«, brachte ich endlich hervor, doch meine Gedanken waren woanders. War da nicht eine Spur von Gereiztheit in Großpapas Miene gewesen, als ich ihn vor einigen Tagen in der Bibliothek in seiner Lektüre unterbrochen hatte? Hatten Mutter und Vater mit ihm gesprochen? Ihm klarzumachen versucht, dass er einen unguten Einfluss auf mich ausübe und statt meiner lieber einen meiner Brüder fördern solle? Und dann war da auch noch das Missgeschick mit dem vergessenen Fundort unserer Wicke. Sicher, ich hatte ihn wiedergefundenen, aber hatte er mir wirklich vergeben, dass ich die Stelle nicht gleich notiert hatte? Er hatte mich schon vor Monaten dazu ermuntert, Kochen und Stricken zu lernen, als Mutter mir diese

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