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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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waren. Und dann gab es noch ein Geschenk für mich. Ich wusste gleich, dass es ein Buch war, auch wenn es in braunes Papier verpackt war. Ein Buch! Wie schön, dass ich der kleinen Bibliothek, die sich langsam auf dem Bord über meinem Bett ansammelte, wieder einen neuen Band hinzufügen konnte. Das Buch war so dick und schwer, dass mir gleich klar war, dass es sich nur um irgendein Nachschlagewerk handeln konnte, ein Lehrbuch, vielleicht sogar eine Enzyklopädie. Ich schlug das steife Papier auf und erspähte als Erstes das Wort Wissenschaft in geschwungener Schrift. Besser noch als das Gewicht des Buches in meiner Hand war die erfreuliche Tatsache, dass meine Eltern endlich verstanden hatten, welche Art von geistiger Nahrung ich zum Überleben brauchte. Aufgeregt strahlte ich sie an, und sie nickten mir lächelnd zu. Nun riss ich das Papier vollends ab, und der vollständige Titel wurde sichtbar: Wissenschaftliches Kompendium hausfraulicher Tätigkeiten.
    »Oh!« Verwirrt starrte ich darauf. Ich verstand gar nichts. Was konnte das bedeuten? War das überhaupt englisch? Wissenschaftliches Kompendium hausfraulicher Tätigkeiten, von Josiah Jarvis.Das musste ein Irrtum sein. Plötzlich fühlten meine Hände sich an wie Holz. Mühsam schlug ich das Buch auf, suchte nach dem Inhaltsverzeichnis und las: »Kochen für Kranke«, »Pikante Beilagen und Saucen«, »Entfernen schwieriger Flecken«. Ich starrte auf diese verhassten Themen.
    Die Unterhaltung im Raum erstarb nach und nach, und bald war kein Laut mehr zu hören außer dem monotonen Geräusch, das aus der Zimmerecke kam, wo Jim Bowie auf seinem Holzpferd schaukelte. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich sah zu Großpapa hinüber, der besorgt die Stirn in Falten zog. Dann sah ich Mutter an, die erst bleich wurde und dann rot anlief. Ich hatte die Sünde begangen, sie vor einem Gast in eine peinliche Lage zu bringen. Sie setzte eine finstere Miene auf.
    »Nun, was sagst du, Calpurnia?«
    Ja, was sagte Calpurnia? Was konnte ich sagen? Dass ich dieses Buch, das ohnehin nicht zu mehr als zum Anfeuern taugte, am liebsten ins Kaminfeuer geworfen hätte? Dass ich am liebsten laut geschrien hätte, weil das alles so ungerecht war? Dass ich in diesem Moment in der Lage gewesen wäre, gewalttätig zu werden, ihnen allen ins Gesicht zu schlagen? Selbst Großpapa, ja, selbst ihm. Wieso hatte er mich denn so ermutigt, wenn er doch genau wusste, dass es kein neues Jahrhundert für mich gab, kein neues Leben für dieses Mädchen? Mein Urteilsspruch lautete »lebenslänglich«, und meine Eltern hatten ihn verkündet. Und von keiner Seite war Hilfe in Sicht. Weder von Großpapa noch von sonst jemandem. Ich spürte den Ausschlag an meinem Hals, die Haut brannte wie nach einem Peitschenhieb.
    »Calpurnia?«
    Große Müdigkeit überkam mich wie eine Flutwelle und spülte meine Wut hinweg. Ich war zu erschöpft, um weiterzukämpfen. Stattdessen tat ich das Schwerste, was ich je getan hatte. Ich suchte in den tiefsten Tiefen meines Inneren und zerrte den Ansatz zu einem dünnen Lächeln herauf.
    »Danke schön«, flüsterte ich. Nur diese zwei Worte, diese künstlichen zwei Worte aus dem Mund einer Heuchlerin. Tränen traten mir in die Augen. Mir war, als müsste ich jeden Moment auseinanderbrechen.
    In diesem Moment fiel J. B. von seinem Schaukelpferd und brach sofort in ohrenbetäubendes Gebrüll aus. In der allgemeinen Verwirrung raffte ich meine Geschenke zusammen und schlich unbemerkt in mein Zimmer hinauf. Dort stellte ich mich ans Fenster und starrte hinaus in die schwarze Nacht. Bald darauf sah ich den sich immer weiter entfernenden Schimmer der Laterne des Pfarrers, wie ein Glühwürmchen in der Dunkelheit. Sul Ross und J. B. tobten lachend durchs Treppenhaus. Ich zog mein Nachthemd an und legte mich ins Bett. Ich sah meine Geschenke an, die ich alle auf die Kommode gelegt hatte, neben das Kolibrinest im Glas – die Haarbänder, das Medaillon und das Buch. Zu erschöpft, um mich in den Schlaf zu weinen, schloss ich einfach die Augen.

 
     
     
    Sechsundzwanzigstes Kapitel
     
    ENDLICH NACHRICHT!
     
    Obwohl Schnäbel und Füße der Vögel gewöhnlich ganz rein sind, hängt doch oft auch Erde daran. In einem Fall entfernte ich 22 Gran toniger Erde vom Fuß eines Feldhuhns, und in dieser Erde befand sich ein Steinchen, so groß wie ein Wickensamen.
     
     
    Monotone Monate lang hatte ich wie ein Bussard den Tisch in der Eingangshalle umkreist, zahllose langweilige Briefe

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