Camel Club 04 - Die Jäger
haben sie ’nen Stollen zu den Eingeschlossenen vorgetrieben. Und gerade waren sie drauf und dran, zu ihnen durchzustoßen, da kam es im Unglücksstollen zur Explosion. Wahrscheinlich durch Methangas. Der halbe Berg ist auf meinen Dad und seine Kollegen gestürzt. Danach konnte man kein Risiko mehr eingehen. Und wir wussten ja, sie waren sowieso tot. So eine Explosion konnte niemand überleben. Also haben sie einfach alles zugeschüttet und obendrauf dieses beschissene Gefängnis gebaut. Ein echt schöner Grabstein für meinen Dad, das muss ich schon sagen. Und als mein Ehemann Josh in dem Knast ’ne Anstellung gekriegt hat, war ich gar nicht erfreut darüber. Aber es ist so, wie er damals sagte: Arbeit gibt’s nur in der Grube oder im Gefängnis. Und ich war nicht scharf darauf, dass auch Josh unter Tage fährt, nachdem mein Dad für das Scheißbergwerk gestorben war. Also blieb Josh gar nichts anderes übrig, als im Knast zu arbeiten. Er hatte vor, dort auch Willie ’ne Stelle zu vermitteln, aber der Junge ist lieber zur Zeche malochen gegangen. Josh hat sich alle Mühe gegeben, es ihm auszureden, aber dann kam er ja auch ums Leben.«
»Durch einen Unfall, nicht wahr?«
Shirley schnaubte. »Unfall? Ja, es war genauso ein Unfall wie das hier.« Sie deutete auf die Überbleibsel des Wohnmobils.
»Wollen Sie andeuten, Ihr Mann wurde ermordet? Von wem? Und warum?«
Aus geröteten Augen starrte Shirley sie an. »Ich sollte mit Ihnen nicht über diese Sachen reden. Mit keinem sollte ich darüber sprechen. Aber mir blutet seit zwei Jahren das Herz.«
»Ich möchte nur helfen, Shirley. Ich will meinen Vater finden. Sie haben Ihren Sohn und Ihren Ehemann verloren. Es ist höchste Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt.«
Nun mach schon, Lady. Erzähl mir alles.
»Ja, Sie haben recht. In meinem Innersten ist mir klar, wie recht Sie haben.«
»Dann sollten Sie mir alles anvertrauen.«
Shirley nahm einen tiefen Atemzug. »Ich bin es so satt. Es hat alles überhandgenommen.«
»Bitte, Shirley.«
Shirleys Augen, die in die schwarze Nacht blickten, wurden wacher und kälter. »Im Gericht erreichen uns ständig große Lieferungen. Viele Kartons. Nur stimmen Lieferscheine und Lieferumfang nie überein.«
»Wie ist das zu verstehen?«
»Beispielsweise steht auf dem Lieferschein, es sind fünfzig Kartons, aber es sind nur dreißig da.«
»Kennen Sie den Grund?«
»Ich bin nicht versessen darauf, mich ins Unheil zu stürzen.«
»Ich bin nicht von der Polizei, Shirley. Mir geht es ausschließlich darum, meinen Dad zu finden.«
»Mein Leben lang bin ich arm gewesen. Sie sehen ja, wie unser Ort heute dasteht. Alle sind zufrieden. Warum soll ich nicht auch ein Stück vom Kuchen kriegen? Verstehen Sie?«
»Ja, sicher. Ist doch auch nur gerecht.«
»Verdammt, ja! Ich wollte aufs College. Mein Bruder durfte, aber nicht die doofe Shirley. Wir hatten nicht das Geld.«
»So ist es oft«, sagte Annabelle geduldig.
Shirley trank einen Schluck Wein. Von nun an schien sie nicht mehr wahrzunehmen, dass Annabelle neben ihr saß. Stattdessen machte sie den Eindruck, ein Selbstgespräch zu führen. »Und hätte ich wissen können, dass Josh ums Leben kommt, wenn er auf die Jagd geht? Rory hat nur gesagt, ich soll Josh überreden und ihm dann telefonisch Bescheid geben. Das habe ich getan. Wie hätte ich vorhersehen können, was passiert?«
»Selbstverständlich konnten Sie es nicht im Voraus wissen«, bestätigte Annabelle. »Aber reden wir doch noch mal über die Kartons.«
»Es gibt hier oben ein Riesenproblem mit Drogenabhängigkeit. Die Leute tun alles, um an ihre tägliche Dosis zu kommen.«
»In den überzähligen Kartons sind also Drogen?«
Falls Oliver mitten in einen weitgespannten Drogenring geraten ist, überlegte Annabelle, wird er wohl längst tot sein. Und falls nicht, bleibt ihm wohl keine lange Gnadenfrist mehr.
»Verschreibungspflichtige Pillen. Damit kann man unglaublich Kasse machen.«
»Wie werden sie vertrieben? Ich meine, wohin befördert man die Pillen in den überzähligen Kartons?«
Shirley zündete sich eine neue Zigarette an und musterte Annabelle beinahe belustigt. »Missy, wir haben jede Menge medikamentenabhängige Bergleute, die jeden Morgen in der Klinik antanzen, sich den Methadoncocktail abholen und danach pünktlich um sieben Uhr zur Schicht in der Grube sind.«
»Und wo ist da der Zusammenhang?«
»Sie fahren schon nachts um zwei los. Ich weiß es, weil ich sie beobachtet habe. Eine
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