Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
«mächtigen Poesie der Schule» schwärmen, die das Versprechen von einem anderen Leben schon im Geruch der Tinte, der Lederriemen und der Federkästen verströmt habe. [16]
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Der erste Lehrer: Louis Germain
Monsieur Germain, der mit seinen runden braunen Augen, dem glatt gescheitelten braunen Haar, den weichen Gesichtszügen und dem dunklen Schnurrbart wie eine Provinzausgabe von Marcel Proust aussieht, ist nicht nur die personifizierte Dritte Republik der Kolonialmacht Frankreich, sondern auch der erste Botschafter der Pariser Kultur, der in dem algerischen Paralleluniversum des Schweigens und der Einfachheit auftaucht. Er habe, wird Camus später sagen, «ganz allein die Verantwortung dafür übernommen, ihn zu entwurzeln». [17] Die Kluft, die sich nun im Abstand von ein paar hundert Metern zwischen Elternhaus und Schule auftut, wird später in Camus’ Lebenspolen Algier und Paris einen endgültigen Ausdruck finden.
Germain sorgt dafür, dass Camus ein Stipendium für die höhere Schule erhält. Die Großmutter sträubt sich, sie möchte, dass die Kinder ihrer Tochter so früh wie möglich Geld verdienen. Germain sucht die beiden Frauen in der Rue de Lyon auf, setzt sich mit ihnen an den Esstisch, und tatsächlich gelingt es ihm, die Großmutter umzustimmen. Sie stellt nur eine einzige Bedingung: Der Enkel soll vor dem Schulwechsel zur Heiligen Kommunion gehen. Sicher ist sicher.
Das war knapp. Ohne Louis Germain gäbe es keinen Camus. Er wäre in irgendeiner Abstellkammer des Lebens gelandet – wie sein Onkel Gustave Acault, der Fleischer, der nachts Shakespeare und Gide liest und sonntags das große Wort in der Eckkneipe seines Viertels führt; oder wie Meursault, Held des Romans
Der Fremde
, der im Hafen von Algier arbeitet, vormittags und nachmittags jeweils genau vier Stunden, und sich nach Feierabend einsamen, unspektakulären Gedanken hingibt.
Germain gibt Camus Privatstunden, um ihn auf die Aufnahmeprüfung am Gymnasium vorzubereiten. Er begleitet ihn am entscheidenden Tag. «Geh, mein Sohn», soll er an der Pforte gesagt haben. Und Stunden später: «Bravo, Knirps. Du hast bestanden». [18] Dann überlässt er seinen Schützling, der nicht versteht, wie ihm geschieht, der Bildungsmaschinerie einer der führenden Kulturnationen der Welt. Bis zu seinem Lebensende glaubt Camus, in diesen Stunden aus dem Paradies vertrieben worden zu sein –
«um in eine unbekannte Welt geworfen zu werden, die nicht mehr seine war, von der er nicht glauben konnte, dass die Lehrer gelehrter waren als dieser, dessen Herz alles wusste, und er würde in Zukunft ohne Hilfe lernen und verstehen müssen, schließlich ein Mann werden müssen, ohne den Beistand des einzigen Menschen, der ihm geholfen hatte, schließlich ganz auf seine Kosten sich allein erziehen und erwachsen werden müssen». [19]
Camus hat sich niemals über seine Kindheit beklagt. Im Gegenteil: Die kindliche Begabung zur Hingabe an das, was ihm gegeben ist, zur rückhaltlosen Bejahung des Jetzt, wird er nicht verlieren. Er habe nicht in der Zerrissenheit, sondern in der Fülle begonnen, sagt er später einmal. Bei Nietzsche findet er den passenden Kommentar zu dieser jugendlichen Strategie der Weltumarmung und der blattgoldverzierten Verklärung seiner Kindheit im Armenviertel von Algier. Als er im Januar 1960 auf dem Weg nach Paris stirbt, steckt in seiner Tasche ein Exemplar von Nietzsches
Fröhlicher Wissenschaft
. Darin hatte er lesen können:
«Glattes Eis
Ein Paradeis
Für Den, der gut zu tanzen weiß.»
«Voilà. Sie ist tot …»
Hier ist Camus’ Geschichte als ein «erster Mensch», der ohne Vater und ohne große Worte in die Welt zieht, um sie erst zu umarmen und dann zu erobern, zu Ende. Nur wenige Jahre hat Camus in der Nacht eines anderen Zeitalters verbracht. Seit er die Schwelle des «Grand Lycée» unweit des Meeres, eine halbstündige Straßenbahnfahrt von Belcourt entfernt, überschritten hat, ist er kein afrikanischer Kaspar Hauser mehr, sondern ein ehrgeiziger Proletariersohn des französischen Imperiums, der Latein lernt und beginnt, sich seiner Herkunft zu schämen.
Seine ersten Zeilen wird Camus als Gymnasiast schreiben und in der Schulgazette
Sud
veröffentlichen, die sein Oberlehrer Jean Grenier herausgibt; Aufsätze im jugendlichen Renommierstil über Paul Verlaine, über den längst vergessenen Autor Jehan Rictus, über Henri Bergson oder über die Musik im Allgemeinen und bei Schopenhauer und
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