Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
darstellen mochte, für den Sohn war die Mutter ein Teil seiner selbst, die Urzelle, aus der sein Lebensgefühl erwuchs, die Art und Weise, wie er die Welt wahrnahm. Hinter dem faltigen Gesicht und den braunen Augen seiner Mutter sah er einen Gott verborgen, den einzigen, den er akzeptierte, den Gott einer unverbrüchlichen anfänglichen Nähe zwischen den Dingen und den Menschen, den Gott der Einfachheit.
2. Kapitel Der Sommer
Ort und Zeit:
Plage des Sablettes 1923 . Hafen von Algier 1930 . Krankenhaus von Mustapha 1930 . Tipasa 1935 .
Sonnenanbeter
Zum Strand sind es ein paar hundert Meter. Die Hitze verlangsamt die Bewegungen. Mittags steht hier die Zeit still. Sobald die Kinder aus Belcourt die Siesta neben den schnarchenden Verwandten hinter den geschlossenen Jalousien überstanden haben, rennen sie los, zum nächsten Strand, durch ein Gewirr aus Wagen, Eseln, Schafen, Hunden, schreienden Händlern und rasselnden Straßenbahnen.
Von der Rue de Lyon aus liegt die Plage des Sablettes am nächsten. Kein weißer Sand, keine unbetretene Wildnis erwartet sie hier. Nur ein grauer Streifen, begrenzt von einer Steinbalustrade, eingefasst von zweistöckigen Holzhäusern, Cafés und Tanzlokalen mit zum Meer offenen Tanzböden, beherrscht von alles überragenden Strommasten, bevölkert von Pommes-frites-Verkäufern, Damen mit Strohhüten und langen steifen Röcken, Kindern und Fischern, die, auf den Felsen hockend, geduldig auf ihren Fang warten. Am Horizont ziehen die großen Linienschiffe in Richtung Frankreich, das noch keiner von ihnen gesehen hat. Man hört aus der Ferne Sirenen.
Kaum haben die Jungen den Strand erreicht, sind sie nackt und stürzen ins Wasser, auf dem die Abfälle schaukeln. Das Schwimmen haben sie sich mit Hilfe von Korkgürteln selber beigebracht. Jetzt paddeln sie wie junge Hunde dem offenen Meer entgegen, johlen, prusten, wetteifern darin, wer am längsten unter Wasser bleiben kann. Bald wälzen sie sich im grauen Sand, lassen sich trocknen, rennen zurück ins Meer und vergessen über diesen Freuden die Zeit.
Die Dämmerung in Nordafrika dauert nicht lange. Kaum brennen die ersten Gaslaternen, wird es Nacht, und die Jungen hasten in der einbrechenden Dunkelheit nach Hause. Meistens kommen sie zu spät. In der Rue de Lyon enden solche Tage dann mit der Peitsche. Hiebe auf Beine und Hintern sind der Preis für die Stunden des Glücks. Camus muss der Großmutter den Ochsenziemer selbst bringen.
Die Sommertage am Meer in Algier hat Camus später – lungenkrank und den Tod vor Augen – als Urbilder des Glücks beschrieben und womöglich eine weit weniger vollkommene Wirklichkeit ein weiteres Mal überschrieben. Die Nachmittage an der grauen überfüllten Plage des Sablettes werden für ihn zum «Prachtvollsten, was die Welt zu geben hat». Camus schwärmt von dem «unersetzlichen Reichtum» und der «Herrlichkeit des Lichts», das sich über die Gassenjungen ergießt wie der Segen Gottes. [23] Je ferner und unerreichbarer ihm diese Tage werden, umso mehr wird er sie preisen.
In seinen Erinnerungen scheint in Algier immer die Sonne. Der Sommer ist heiß und endlos, die Luft riecht nach Meer, Salz und nackter Haut. Es gibt keinen Winter. Die langen, feuchten Regenmonate, in denen das Kind, gelähmt von Langeweile, wie ein gefangenes Tier den Esstisch umkreist, sind im Rückblick wie ausgelöscht. Noch in seiner Nobelpreisrede wird Camus von dem lichtdurchfluteten und glücklichen Leben schwärmen, das er als Kind führte und dessen emphatische Lesart er früh festlegte.
Die Schattenseiten Algiers konnten Camus allerdings kaum verborgen geblieben sein. Algier ist eine Stadt unter europäischer Herrschaft. Und Europa rüstet sich für das moderne Maschinenzeitalter – und für einen neuen Weltkrieg. Der Stadtteil Belcourt wandelt sich, neben den Arbeiterhäusern, in denen das einfache Leben gelebt wird, entstehen Fabriken und Lagerhäuser. Die Bewohner des «Quartier pauvre», wie Camus sein Viertel nennt, verschleißen schnell.
«Sie heiraten jung, sie beginnen sehr früh zu arbeiten und erschöpfen die Erfahrung eines ganzen Lebens innerhalb von zehn Jahren. Ein Arbeiter von dreißig Jahren hat bereits seine ganzen Trümpfe ausgespielt und wartet, umgeben von seiner Frau und seinen Kindern, auf sein Ende. Sein Glück war heftig und kennt kein Erbarmen. Genauso sein Leben.» [24]
Der Junge aus Belcourt, der dabei ist, dem harten Dasein, über das er schreibt, auf dem ersten Bildungsweg
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