Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
zu entkommen, schiebt die Verantwortung für den rasanten Verschleiß der Algerier auf die Sonne, das Klima und das im Übermaß genossene Glück. Über die Lebensbedingungen im sich atemlos industrialisierenden Europa verliert er kein Wort. Auf seinem Weg zum Meer dürfte der Schüler die Fabriken und die Stromtrassen am Strand von Algier gesehen haben. Doch einen Zusammenhang zwischen der Düsternis und Enge in der Rue de Lyon und der Industrialisierung am Beginn des 20 . Jahrhunderts hat er nicht hergestellt. Die Abhängigkeit der kleinen von der großen Welt war in seiner Familie nicht augenfällig. Die Mutter putzte für die vermögenden Kolonisten, die beiden Onkel verkauften derselben Klientel den Sonntagsbraten oder stellten in ehrbarer Handarbeit die Fässer her, in die sie ihren Wein abfüllen konnte. Und der junge Mann dieser Familie sucht nach einer einfachen Formel des Glücks, mit der er festhalten kann, was er gerade verliert.
Mit dreizehn Jahren soll für Camus die Zeit der Strandsommer vorbei sein. Die Großmutter verlangt von ihm, in den Ferien zu arbeiten. Er ist empört: Für das bisschen Geld, das er mit diesen Aushilfsarbeiten verdiene, könne er sich nicht den millionsten Teil der Schätze kaufen, die der Sommer am Strand für ihn bereithalte. Wozu brauche man Geld, wenn man in den einfachen und unmittelbaren Freuden den ersten und letzten Lebenssinn finde? Camus revoltiert gegen das Prinzip Befriedigungsaufschub, das die westliche Welt in Gang hält.
Ein Sketch aus dem Tagebuch des Jahres 1937 veranschaulicht die Rangordnung der Dinge, die für ihn zählen:
«– Und was ist Ihr Beruf?
– Ich zähle.
– Wie bitte?
– Ich zähle. Ich sage: Eins, das Meer, zwei, der Himmel (oh, wie schön!), drei, die Frauen, vier, die Blumen (oh, wie ich mich freue!).
– Das wird ja mit der Zeit albern.
– Du liebe Zeit, Sie vertreten die Meinung Ihres Morgenblattes. Ich vertrete die Meinung der Welt. Wenn sie in Licht getaucht ist, wenn die Sonne brennt, habe ich Lust zu lieben und zu umarmen, in Körper wie in Lichter hineinzugleiten, in Sonne und lebendigem Fleisch zu baden. Wenn die Welt grau ist, erfüllen mich Wehmut und Zärtlichkeit. Ich habe das Gefühl, besser zu sein, fähig, zu lieben, ja sogar zu heiraten. Im einen wie im anderen Fall hat das keine Bedeutung.» [25]
Der Weltliebhaber verabscheut das Fortschrittsethos – verzichte auf das einfache Glück, das du jetzt genießen kannst, arbeite emsig und vertraue darauf, dass du morgen durch ein größeres entlohnt wirst. Das Meer, der Himmel, die Sonne, die Frauen, die Blumen – das reicht ihm, solange das Wetter gut ist (nur bei schlechtem Wetter wäre er bereit, langfristige Lebensinvestitionen zu tätigen und zum Beispiel zu heiraten). Der Abonnent des Morgenblattes wird sich damit nicht zufriedengeben, er verlangt bei jedem Wetter nach Sicherheit, Statussymbolen, Bequemlichkeit und Belohnung für seinen Verzicht. Camus hält dagegen: Warum sollte man für den Fortschritt einen so hohen Preis zahlen, wenn das Glück vom Himmel scheint und alle versorgt? Er möchte ihn nicht zahlen. 40 Stunden Arbeit, Heirat, Büro – das ist kein wirkliches Leben.
Der Mensch an den Küsten des Mittelmeers, der – jedenfalls nach Ansicht des Mittelmeerbewohners Camus – alle Freuden und alle Leiden mit ganzer Kraft und ganzem Herzen genießt, ist sein Vorbild. Niemals würde dieser Sommermensch den trüben Ideen des Aufschubs, des Sparens, der Sublimation und des Triebverzichts im Namen einer kalten Vernunft folgen.
Der Lungenkranke
Die wichtigste Aufgabe des sechzehnjährigen Hafenangestellten besteht darin, in der glühenden Hitze, die Verladeliste und Frachtbriefe in der Hand, zwischen dem Maklerbüro und den Schiffen hin und her zu laufen. Er magert ab und beginnt zu husten. Zunächst glaubt man, er habe sich beim Sport erkältet, doch einige Monate darauf erleidet Camus Erstickungsanfälle und spuckt Blut. Im Krankenhaus stellt man eine schwere Lungentuberkulose fest. Er schwebt in Lebensgefahr, wirksame Medikamente gegen Tbc sind noch nicht verfügbar. Camus muss sich im Krankenhaus de Mustapha in Algier einer langwierigen Pneumothorax-Behandlung unterziehen, deren therapeutische Nutzlosigkeit damals nicht bekannt war. Zum ersten Mal in seinem Leben schläft er in einem eigenen Bett. Auf dem Höhepunkt der Krankheit geben die Ärzte ihn auf. Er hat ein Todesurteil erhalten, das nicht sofort vollstreckt, sondern auf unbestimmte
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