Canale Mussolini
und hochmütiger als zuvor, und machten dann auch noch Karriere, wie Badoglio, der zu den Hauptverantwortlichen für Caporetto zählte. Die geflohenen Soldaten dagegen wurden gefangen und allesamt standrechtlich erschossen. Oder besser gesagt, nicht alle. Die Einheiten, die geschlossen die Flucht ergriffen hatten – Züge, Kompanien, Bataillone –, ließen die Carabinieri in einer Reihe antreten und durchzählen »Eins, zwei, drei, vier, fünf: du bist dran«, und für den war’s aus. »An die Wand.« Die anderen hatten Glück gehabt. Dezimierung nannte man das.
Auch Onkel Temistocle packte in Caporetto irgendwann die Panik, denn Angst ist ansteckend. Je mehr man um sich herum Leute sieht, die Angst haben, desto mehr bekommt man selbst auch welche, das ist eine Frage der wachsenden Gewissheit, der sich durchsetzenden Überzeugung. Anfangs dachte man vielleicht zweifelnd: »Wer weiß, ob das hier nicht doch bedenklich ist.« Aber das sagte man nicht laut, das behielt man für sich, auch, um vor den anderen nicht als feige dazustehen. Aber sobald man sieht, dass die anderen Angst haben, sagt man sich sofort: »O je, hier muss man ja wirklich Angst haben«, nimmt die Beine unter die Arme und nix wie weg. Zusammen mit den anderen und die mit einem mit. So auch Onkel Temistocle – als er die Deutschen vorrücken sah wie Dämonen, die Unseren dagegen davonlaufen wie die Hasen und die Gewehre wegwerfen, um schneller rennen zu können, da machte auch er irgendwann kehrt und floh. Er warf aber das Gewehr nicht weg, das widerstrebte ihm. »Man weiß ja nie«, dachte er. Und tatsächlich kam ihm das später zugute, als er auf einen Trupp Soldaten stieß, die sagten: »Wohin seid ihr unterwegs, ihr Feiglinge«, und die ohne Gewehr auf der Stelle erschossen.
Aber dieses »Feigling« hatte ihn in seiner Ehre gekränkt, und so blieb er und leistete dem Feind Widerstand – »Im schlimmsten Fall töten sie mich« –, und sie unternahmen den Versuch zu einem geordneten Rückzug. Dafür hat man ihm dann die Bronzemedaille verliehen, auch wenn er sagte, die hätte man ihm bloß so verliehen, denn besonders heldenhafte Taten hätte er damals nicht vollbracht. Er war einfach stehengeblieben und basta. Was er oft getan hatte – aus dem Schützengraben heraus mit der blanken Waffe anzugreifen, Deutsche mit dem Dolch abzustechen –, das verlangte viel mehr Mut. Dort hingegen – in Caporetto – waren es mehr unsere eigenen Leute, die er abstach, Italiener, Deserteure, er musste auch an Exekutionskommandos teilnehmen, und jedes Mal dachte er sich, dass nur um ein Haar nicht er an der Wand stand anstelle dieses anderen da.
Nach drei Jahren Krieg war Italien am Ende. Nicht nur wegen dem Hunger, den Lebensmitteln und allem. Mittlerweile gab es fast niemand mehr, den man in die Schlacht schicken konnte. Also musste man, um sich nach Caporetto zu erholen, auch Jungen zu den Waffen rufen, die letzten Jahrgänge, 1899, der Jahrgang von Onkel Pericle, achtzehn Jahre alt: »Ein Kind«, sagte meine Großmutter, »ein Milchbart.«
Er war etwas größer geworden im Verhältnis zu früher, aber nicht so sehr. Schmächtig, mager, blond, hatte er nur diese sprühenden Augen, die nie stillstanden; er sah einen von allen Seiten an, er war ganz aufgeladen, nervöse Spannung wie bei einem Aal. Er musste auch einrücken. Großvater krampfte sich das Herz zusammen: »Er geht zugrunde in dem Krieg, den ich gewollt habe.«
Onkel Pericle dagegen war überglücklich, denn wer weiß wie oft er sich, während er mit den Ochsen übers Feld ging, mit offenen Augen Kriegsszenen ausgemalt hatte, er, der aufsprang und den Feind niederrang. Bestimmt hatte er im Innersten etwas Angst, gab sie aber nicht zu erkennen, machte den Prahlhans. Glücklich und froh zog er los – oder so schien es jedenfalls –, die Geschwister begleiteten ihn bis ans Ende des Zufahrtswegs zur großen Straße. Alle gingen mit außer Onkel Adelchi, der blieb zu Hause – »Ich habe hier zu tun« –, die größeren wie die kleineren Geschwister, die kreischten, um ein letztes Mal auf den Arm oder auf den Schultern Huckepack genommen zu werden. Und als schließlich auf der großen Straße einer der Karren vorbeikam, die täglich in Richtung Adria und dann nach Rovigo fuhren, die Milchkannen hin und her brachten, machte Onkel Pericle ein Zeichen mit der Hand, und der Fuhrmann sagte: »Steig auf.«
Alle seines Jahrgangs – die 99er Jungs – zogen aus und gewannen den Krieg. Ich weiß,
Weitere Kostenlose Bücher