Canale Mussolini
dann hatte sich alles geändert. Wer vor dem Krieg sein bescheidenes Auskommen gehabt hatte, dem war alles über den Haufen geworfen, und er musste womöglich mit ansehen, wie sein Nachbar, der vorher nie gearbeitet und sich immer nur mit Betrügereien durchgebracht hatte, nun durch Schwarzmarktgeschäfte reich wurde; »Haie« nannte man solche. Und dann war da diese ganze Schar von Krüppeln und Versehrten, die man für immer würde durchfüttern müssen. »Und wofür?«, fragten sich alle: »Wegen Trento und Trieste?« Und gaben die Schuld den Soldaten.
Nicht über den König oder die Politiker regten sie sich auf, nein, über die Soldaten. Vielleicht liegt es ja an der Uniform. Vielleicht hatten sie bis dahin so viele Uniformen herumlaufen sehen, dass sie nun genug davon hatten, und sobald sie eine sahen, fingen sie an zu schimpfen – oder zuzuschlagen –, besonders, wenn man allein oder isoliert war. Kinder warfen einem Steine nach: Es war Schuld der Soldaten, wenn es Krieg gegeben hatte, und alles, was man durchmachte, Sorgen und Hunger, das war auch Schuld der Soldaten. Auch weil wir, Sie werden das wissen, nicht so recht zufrieden waren, als der Krieg vorbei war. Alle zeterten gleich los: »Der verstümmelte Sieg«, weil man uns nur Trento, Trieste und Istrien gegeben hatte. Wer weiß, was wir uns erwartet hatten! So dass D’Annunzio dann allein – oder besser, mit seinen Legionären – loszog, um gegen die Bestimmungen des Friedensabkommens Fiume zu besetzen. Sein Chefideologe war eben besagter Alceste De Ambris, der die Verfassung für Fiume, die Carta del Carnaro entwarf, die Arbeiterräte in den Fabriken vorsah, Sowjets, Betriebsräte und Korporativismus. Fiume wirkte fast wie das leninistische Russland oder so – Korporativismus usw. – und ist nachher geschlossen zum Faschismus übergegangen. Ja, für den Faschismus war Fiume eine Art Generalprobe, auch wenn Alceste De Ambris – der der geistige Vater von allen war, von Rossoni bis Mussolini –, als es hart auf hart ging, auf die andere Seite wechselte und sich 1927 an die Spitze der antifaschistischen Front setzte. »Wer weiß, wie das damals wirklich gelaufen ist«, sagte mein Großvater. »Womöglich konnten die sich nicht einigen, wer das Sagen hat.«
Die Leute waren jedenfalls sauer: »All diese Toten umsonst und der Frieden auch verstümmelt«, weil es vor allem schien, dass nur wir diesen Krieg gewonnen hatten. Wissen Sie, mit dem Reden war man in Italien ja schon immer ganz groß: Wir hatten alles gemacht – England und Frankreich nichts –, und dann hatten sie sich alles genommen. Und schuld waren die Soldaten. Soldaten, die natürlich auch stinksauer waren, denn bis gestern waren sie im Feld gestanden, hatten ihr Leben riskiert, ihren besten Freund sterben sehen und dabei nur gedacht: »Na gut, aber wenn es vorbei ist, werden wir entschädigt.« Denn in all diesen Jahren konnte man die Leute nicht nur mit Phrasen über das Schicksal des Vaterlands in den Schützengräben halten, inmitten von Leichen und abgetrennten Gliedmaßen der Verwundeten. Um sie weiter dort zu halten – Gewehr im Anschlag –, versprach man diesen armen Schluckern, dass man ihnen, wenn der Krieg gewonnen und der Feind geschlagen war, Land geben würde. »Land den Bauern.« Nur deswegen sind sie geblieben. Wegen dem Versprechen. Aber als dann alles vorbei war, hat man ihnen nicht nur kein Land gegeben – »Aber wann sollten wir das versprochen haben?« –, sondern obendrein hieß es dann, sie sind schuld: »Verfluchte Soldaten.«
Deshalb können Sie sich ja denken, ob mein Onkel Pericle –mit seinen Freunden unterwegs in Mailand, auf Ausgang und nachdem sie sich im Puff ordentlich ausgetobt hatten – auf Zivilisten achtete, die vorbeikamen. Doch als er laut seinen Namen rufen hörte – »Peruzzi!« –, drehte er sich um, hocherfreut, und erkannte ihn: »Herr Hauptmann!«
»Ach was, Hauptmann, komm her, ich bin’s, Rossoni!«
»Aha«, versetzte mein Onkel, wie um zu sagen: »Entscheide dich«, ging auf ihn zu, und sie umarmten sich.
»Wie geht es deinem Vater?« und dieser Kram, und dann beim Abschied, bevor jeder seiner Wege ging, sagte Rossoni noch: »Morgen erwarte ich dich an der Piazza San Sepolcro. Ja …«, und damit wandte er sich an die Freunde meines Onkels. »Kommt ihr doch auch mit.« So ging mein Onkel tags darauf zur Piazza San Sepolcro in Mailand, das war der 23. März 1919, da waren auch Mussolini und viele andere berühmte Leute,
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