Canale Mussolini
dieselben Haltestellen, derselbe Grappa, Milchkaffee, Faschistischer Frauenbund in Bologna und Florenz, bei jedem kleinsten Halt dasselbe Hin und Her der Männer und Kinder von einem Waggon in den andern, dasselbe Gezänk und dieselben von den Großmüttern erzählten Märchen. Und dann das Rangieren der Waggons hin und her rrrumms, rrrumms in Roma Termini, die lange, lähmende Warterei, bis es weitergeht, dann erneut Schlafen rattatata, rattatata bis über Torricola hinaus, über Santa Palomba, Campoleone, Cisterna. Man kann sagen, wir waren schon fast da, und auch wir waren vollkommen pünktlich. Doch dann bekamen wir Verspätung durch die Unachtsamkeit eines Kindes, es war eins der Familie Mambrin, entfernte Verwandte von uns von Seiten der Großmutter, die wir in unserem Waggon getroffen hatten. Arme Leute sind im Grunde alle miteinander verwandt, weil sie viele Kinder haben. Reiche dagegen nicht. Aber wenn man keine Kinder bekommt, hat man keine Verwandten.
Dieser Junge war jedenfalls sechs oder sieben Jahre alt und hieß Benito, aber alle riefen ihn Benitín, weil er so klein war. Mittlerweile gab es natürlich in jeder Familie mindestens einen Benito. Auch meine Großeltern hatten einen gehabt – das jüngste Küken in der ganzen Brut –, 1926 oder 1927. Er war überraschend gekommen, weil Großmutter meinte, sie wäre mittlerweile »aus dem Rennen«. »Das ist vorbei«, und in den ersten zwei oder drei Monaten, als ihr die Menstruation ausblieb, machte sie sich überhaupt keine Gedanken. »Ich bin alt, Punktum.« Aber nein, und als Großvater sah, wie ihr Bauch größer und die Brüste fester wurden und sie wieder mit den Stricknadeln hantierte und kleine Pantöffelchen strickte, und als sie ihm sagte, sie könne es schon spüren, wie es sich bewegte und strampelte, wurde er ganz übermütig: »Also bin ich auch noch zu was gut, saperlott.« Stolz war er. Wir waren schon in Cà Bragadin beim Grafen Zorzi Vila, und meine Großeltern waren wirklich schon etwas hinaus über diese Dinge; der Lebenssaft, den sie dem neuen Kind mitgegeben hatten, war vielleicht nicht mehr ganz so wie bei den anderen. Mit etwas mehr als drei Jahren bekam der Bub an einem ersten Karnevalstag, an Weiberfastnacht, hohes Fieber – Großmutter hatte ihm auch noch Fastnachtsgebäck und Krapfen gemacht –, und am Aschermittwoch war er tot. Er liegt noch dort oben auf dem Friedhof von Cà Foscari. »Mein armer Benito«, waren auf dem Bahnsteig in Rovigo Großmutters letzte Worte, bevor sie in den Zug stieg. »Wer wird ihm denn jetzt Blumen bringen?« Wir bringen ihm manchmal welche, meine Vettern und ich, wenn wir in den Ferien dort vorbeikommen.
Dieser Benito von den Mambrin jedenfalls hantierte schon seit der Abfahrt mit seinem Kaninchen herum. Er redete mit ihm wie mit einem Menschen, und das Tier verstand ihn, sogar besser als ein Mensch – das müssen Sie mir glauben. Seine Mutter sagte, er könne es auf dem Hof schon von weitem rufen »Icio!«, und das Tier kam angerast wie ein Hund, »Icio, gib Pfötchen«, und es gab Pfötchen. »Icio, spring«, und es gehorchte.
»Wir schicken dich zum Zirkus«, sagten alle zu ihm, und die ganze Reise über war es ein unaufhörliches Hantieren mit diesem Kaninchen – als einziges Kind schlief er niemals länger an einem Stück, auch nicht zwischen Bologna und Rom –, immer wieder wachte er auf und räumte den Käfig woandershin, und mit dem Herumräumen weckte er die Frauen im Waggon: seine Mutter, seine Großmutter, seine Tanten und auch die der anderen. Meine Großmutter musste ihm wer weiß wie oft die Geschichte vom Teufel am Pontelungo erzählen. Aber sobald die Geschichte aus war, kroch er jedes Mal von neuem unter sämtliche Sitzbänke. Eine Nervensäge. Die Frauen konnten nicht mehr. Und bei einem Halt – kurz hinter Florenz, glaube ich – übergaben sie ihn samt seinem Kaninchenkäfig einem älteren Vetter von ihm: »Nehmt ihn mit zu euch, und viel Vergnügen.«
Als er ihn daherkommen sah, regte sein Vater sich auf – »Aber hier bekommt er doch zu viel Zugluft und Qualm ab« –, doch dann spielte er mit ihm und behielt ihn ein Weilchen bei sich, auch wenn er sich vorher wohler gefühlt hatte, freier, seinen Grappa zu trinken und mit meinen Onkeln Karten zu spielen. Jetzt musste er auch noch aufpassen, dass der Kleine Armidas Bienen nicht zu sehr störte. »Was ist da drunter?«, fragte er. »Was ist da drunter?«, und zog mit seinen Händchen an dem Tuch. Klatsch , fing er
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