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Canale Mussolini

Canale Mussolini

Titel: Canale Mussolini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pennacchi Antonio
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sich eine Ohrfeige.
    Beim nächsten Halt schickten sie ihn zurück zu den Frauen, und offenbar ist er dann irgendwann – nicht beim rattatata rattatata, sondern in der Stille, während des langen Aufenthalts in Rom am Bahnhof Termini – endlich auch eingeschlafen. »Haaaa«, atmeten die Frauen im Chor auf.
    Dann fuhr der Zug wieder weiter, und wir kamen mehr oder weniger alle schlafend, vielleicht aufgeschreckt durch Träume von der zurückgelassenen Heimat, nach Cisterna, schon im Agro Pontino.
    Hinter Cisterna fuhr dieser kleine Benito aus der Familie der Mambrin noch einmal aus dem Schlaf hoch, wie besessen davon, seinen Kaninchenkäfig umzuräumen.
    Der Zug war sogar etwas zu früh dran. Die Sonne war eben hinter der Zackenkrone der Lepiner Berge aufgegangen, und eine schwarze Wolke – es war mittlerweile November – verdeckte sie teilweise. Der Zug donnerte laut über die Marchi-Brücke, die jenseits der Via Appia den Canale Mussolini überquert. Und alle schliefen in den Waggons, sämtliche Frauen, die Alten und auch der größere Vetter von Benitino, den der Vater geschickt hatte, um auf ihn aufzupassen. Wir waren schon im Agro Pontino. Von der Marchi-Brücke bis Littoria Scalo waren es nur noch sechs Kilometer.
    Benito nahm den Käfig, den er vor Rom unter den Sitz der Großmutter geschoben hatte – die hatte im Halbschlaf nur die Beine beiseitegetan, um ihm bei seiner Räumerei Platz zu lassen –, und genau dort, auf halber Höhe neben den Knien seiner Oma, bildete er sich ein, wollte er den Käfig aufhängen. Er sah etwas, was seiner Meinung nach diesem Zweck dienlich sein konnte – die Klinke der Abteiltür –, und hängte den Käfig daran. Aber der Haken des Käfigs passte nicht richtig. Da half er mit Druck nach.
    Meine Großmutter – sie saß gegenüber, sie waren Verwandte und hatten die ganze Reise über miteinander geschwatzt – erzählte dann immer, dass ihr genau in dem Augenblick, als der Zug über die Marchi-Brücke donnerte, im Halbschlaf das Bild von einem schwarzen Mantel erschienen war. Der Magen krampfte sich ihr zusammen vor Angst – ein dumpfer Schmerz –, und gleich darauf ein eiskalter, harter Schlag ins Gesicht, die Luft, die bei der nun offenstehenden Tür hereinströmte. Sie wachte auf, und das Kind war nicht mehr da. Die Abteiltür schlug wieder und wieder gegen die Außenwand des Waggons.
    Im selben Moment – ja, noch einen Augenblick vor meiner Großmutter – wachte auch die Mutter des Jungen auf, die im fünften oder sechsten Monat schwanger war und auf der Bank an der anderen Seite des Ganges saß. Sie stürzte hin, um ihn zurückzuhalten. Sie war praktisch schon draußen, mit den Schultern und einem Bein.
    Großmutter hielt sie am Rücken fest, packte sie mit einer Hand bei ihrer Wolljacke. Und holte sie wieder herein. Mit der anderen Hand zog sie die Notbremse – seitdem sie in Rovigo eingestiegen war, hatte sie auf diesen drohenden Griff über sich gestarrt. Benitos Großmutter – die alte Mambrin – wollte auch hinausstürzen.
    Der Zug begann zu bremsen. Aber einen Zug bringt man nicht so von Jetzt auf Dann zum Stehen, der fährt noch ein Stückchen weiter, auch mit kreischenden Bremsen. Die Mutter des Jungen schrie: »Mein Junge, mein Junge.« Die Großmutter ebenfalls. Und mit jedem Meter, den der Zug weiterfuhr – iiiii – gaben sie alle Hoffnung auf. Die anderen Frauen sahen nach ihren Kindern und zählten sie durch. Und wenn sie alle abgezählt hatten und die richtige Zahl dabei herauskam, stießen sie einen Stoßseufzer der Erleichterung aus: »Jesus Maria.«
    Die Leute stiegen aus, die Eisenbahner eilten herbei, die Miliz aus dem ersten Waggon, die neugierig gewordenen Männer aus den Güterwaggons – »Was ist los?« –, auch die Mambrin, erschrocken und dann entsetzt zu erfahren, dass es sie getroffen hatte: »Aber warum ausgerechnet uns?«
    Und alle liefen zurück – gegen die Fahrtrichtung des Zugs – und suchten den Jungen. Sie fanden ihn etwa hundert Meter weiter, gleich unter der Schotterböschung der Eisenbahn, genau am Fuß vom Damm des Canale Mussolini, kurz vor der Brücke. Mit verrenkten Gliedern lag er da. Ganz still. Der Hinterkopf und ein Arm zertrümmert. Tot. Aber mit einem Gesichtchen, das zu schlafen schien.
    Der Vater nahm ihn auf die Arme, das Blut tropfte herab, und hielt ihn der Frau hin, die auch herankam. »Benitín!«, schrie sie: »Du und dein verdammtes Kaninchen.«
    »Verfluchte Quote 90«, sagte dagegen der Vater,

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