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Capitol

Capitol

Titel: Capitol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Sturm.
    Die Soldaten waren jung aber unslawisch. Sklavisch aber bestimmt amerikanisch. Sklaven der Slawen. Das werde ich in einem Protestgedicht verwenden, beschloß Jerry. Wenn es nur jemanden gäbe, der ein Protestgedicht lesen will.
    Die jungen amerikanischen Soldaten (aber die Uniformen sind verkehrt. Ich bin nicht alt genug, mich an die alten zu erinnern, aber diese sind nicht für amerikanische Figuren gemacht) begleiten ihn den Korridor entlang, die Treppen hoch und durch Türen, bis sie draußen waren. Sie steckten ihn in einen schwer gepanzerten Wagen. Dachten sie vielleicht, er sei Mitglied einer Verschwörergruppe, und seine Freunde würden kommen, um ihn hier rauszuholen? Wußten sie nicht, daß ein Mann in seiner Lage schon lange keine Freunde mehr hat?
    Das hatte Jerry in Yale erlebt. Dr. Swick war sehr beliebt gewesen. Verdammt der beste Professor in der ganzen Abteilung. Er konnte aus dem schlimmsten Rotz ein brauchbares Stück machen, einen schlechten Schauspieler so einsetzen, daß ihn alle gut fanden, ein apathisches Publikum begeistern und hoffnungsfroh stimmen. Und eines Tages war die Polizei in seine Wohnung eingedrungen und stellte fest, daß er mit vier Schauspielern für eine Gruppe von vielleicht zwanzig Freunden ein Stück aufführte. Was war es noch – Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Jerry erinnerte sich. Ein trauriger Test. Ein verzweifelter Text. Aber dennoch klar, ein Text, der die Verzweiflung als etwas Häßliches und Zerstörerisches darstellte, einer, der aufzeigte, daß Lügen selbstmörderisch sind, einer, der, kurz gesagt, die Zuschauer spüren ließ, daß bei Gott in ihrem eigenen Leben etwas falsch war, daß Friede Illusion und Wohlstand Betrug war, daß Amerikas Ehrgeiz am Ende war, daß so vieles Gute und Edle noch zu tun blieb – Und Jerry merkte, daß er weinte. Die Soldaten, die ihm in dem Panzerfahrzeug gegenübersaßen, schauten weg. Jerry trocknete sich die Tränen.
    Sobald herauskam, daß Swick verhaftet worden war, kannte ihn plötzlich niemand. Jeder, der Briefe, Notizen und selbst Klausurarbeiten hatte, die seinen Namen trugen, vernichtete sie. Sein Name verschwand aus den Adreßbüchern. Seine Klassen waren leer, da niemand kam. Niemand hoffte auf einen Vertreter für ihn, denn die Universität wußte nicht mehr, daß es je diesen Kursus und diesen Professor gegeben hatte. Sein Haus war verkauft worden und seine Frau ausgezogen, und niemand hatte sich verabschiedet. Und dann, mehr als ein Jahr später, hatten die Nachrichten der CBS (die damals immer die Prozesse übertrug) Swick zehn Minuten lang gezeigt, als er weinte und sagte: »Nichts ist für Amerika je besser gewesen als der Kommunismus. Es war nur ein närrisches und unreifes Verlangen, mich selbst zu beweisen, wenn ich mich gegen die Obrigkeit auflehnte. Ich war im Unrecht. Die Regierung hat mich besser behandelt, als ich es verdiene.« Und so weiter. Die Worte waren albern. Aber als Jerry damals dort gesessen und zugeschaut hatte, war er völlig überzeugt gewesen, Swicks Gesicht zeigte es: er meinte was er sagte.
    Der Wagen hielt, und die hinteren Türen öffneten sich, als Jerry gerade daran dachte, daß er sein Exemplar des Handbuchs der dramatischen Literatur von Swick verbrannt hatte. Er hatte es verbrannt aber vorher die wichtigsten Gedanken notiert. Ob Swick es wußte oder nicht, er hatte etwas hinterlassen. Aber was werde ich hinterlassen? fragte sich Jerry. Zwei russische Kinder, die jetzt fließend Englisch sprechen, und deren Vater vor ihrem Haus und direkt vor ihren Augen in die Luft gesprengt wurde, dessen Blut ihnen ins Gesicht spritzte, weil Jerry es versäumt hatte, ihn zu warnen? Welch eine Hinterlassenschaft.
    Einen Augenblick schämte er sich. Ein Leben ist ein Leben, ganz gleich wessen es ist und wie es gelebt wird.
    Dann erinnerte er sich an den Abend, als Peter Andrejewitsch (nein – Anderson, sich als Amerikaner auszugeben ist heutzutage Mode, solange jeder auf den ersten Blick erkennt, daß man Russe ist) im Suff nach Jerry geschickt und als sein Arbeitgeber (sprich Eigentümer) von ihm verlangt hatte, den Gästen der Party seine Geschichte vorzulesen. Jerry hatte versucht, lächelnd abzuwinken, aber so betrunken war Peter nicht; er bestand darauf, und Jerry ging nach oben, holte seine Gedichte, kam wieder herunter und las sie einer Gruppe von Männern vor, die die Gedichte nicht verstehen konnten und einer Gruppe von Frauen, die sie verstanden und lediglich amüsiert waren.

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