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Capitol

Capitol

Titel: Capitol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Der kleine Andrej sagte später: »Die Gedichte waren gut, Jerry«, aber Jerry fühlte sich wie eine Jungfrau, die vergewaltigt und vom Vergewaltiger mit einem Trinkgeld von zwei Dollar abgefunden worden war.
    Tatsächlich hatte Peter ihm einen Bonus gegeben. Und Jerry hatte ihn verjubelt.
    Charles Ridge, Jerrys Verteidiger, erwartete ihn gleich hinter der Tür zum Gerichtsgebäude. »Jerry, alter Junge, Sie scheinen das alles ja mit Fassung zu tragen. Sie haben nicht einmal abgenommen.«
    »Bei einer Diät aus reiner Stärke mußte ich die ganze Zeit in der Zelle herumlaufen, um schlank zu bleiben.« Gelächter. Hahaha, haben wir aber Spaß.
    Was sind wir nur lustig.
    »Hören Sie zu, Jerry, Sie müssen es auch richtig machen. Um die Reaktion der Zuhörer zu erfahren, sind Meßgeräte aufgestellt. Sie können dann genau beurteilen, wie aufrichtig Sie sind. Sie müssen wirklich meinen was Sie sagen.«
    »Gab es nicht einmal eine Zeit, wo der Verteidiger seinen Mandanten freibekommen wollte?« fragte Jerry.
    »Jerry, mit einer solchen Einstellung werden Sie nicht weit kommen. Die gute alte Zeit ist vorbei, wo man aufgrund eines Verfahrensfehlers freikommen und ein Anwalt den Prozeß um fünf Jahre verzögern konnte. Sie sind so schuldig wie der Satan, und wenn Sie sich vernünftig verhalten, geschieht Ihnen überhaupt nichts. Sie werden ganz einfach deportiert.«
    »Sie sind ein Kumpel«, sagte Jerry. »Mit Ihnen an meiner Seite mache ich mir nicht die geringsten Sorgen mehr.«
    »Das ist genau richtig«, sagte Charlie. »Und vergessen Sie es nicht.«
    Im Gerichtssaal wimmelte es von Kameras. Jerry hatte gehört, daß Kameras in den alten Tagen der Freiheit oft nicht zugelassen worden waren. Aber damals sagte der Angeklagte gewöhnlich nicht aus, und damals arbeiteten Anklage und Verteidigung nicht nach dem gleichen Konzept. Aber die Presse war da, und sie sahen für alle Welt so aus, als hielten sie sich für frei. Der Ankläger stellte die Kameras auf den richtigen Winkel ein. »Ich werde in meinem Plädoyer leidenschaftlich um Milde bitten«, sagte Charlie. »Ich mag ein brauchbarer Anwalt sein, aber noch besser bin ich als Schauspieler.« Er sagte es so, als sei dadurch schon der Beweis seiner schauspielerischen Qualitäten erbracht.
    Fast eine halbe Stunde lang hatte Jerry nichts zu tun. Die Zuhörer (ob sie bezahlt werden? fragte sich Jerry. In Amerika müßte es eigentlich so sein) strömten herein, und um Punkt acht Uhr begann die Show. Der Richter betrat den Saal. Er sah eindrucksvoll aus in seiner Robe, und seine Stimme klang sonor und kräftig wie die des Vaters in einer Fernsehserie, der seinem aufsässigen Sohn Vorhaltungen macht. Jeder, der sprach, wurde von der Kamera aufgenommen, die oben ein rotes Licht hatte, und Jerry fühlte sich sehr müde.
    Seine Entschlossenheit, zu versuchen, den Prozeß zu seinen Gunsten zu wenden, geriet nicht ins Wanken, aber er überlegte sich ernsthaft, welchen Sinn es haben würde. Und war es wirklich zu seinem eigenen Vorteil? Bestimmt würden sie wütend werden, ihn unterbrechen. Aber er hatte seine Rede geschrieben, als sei sie der Höhepunkt einer leidenschaftlichen Szene in einem Theaterstück ( Crove gegen den Kommunismus, oder vielleicht Der Freiheit letztes Aufbegehren ) und er der Held, der freudig sein Leben opferte, um den Herzen und Gemütern von Millionen von Amerikanern, die zuschauten, ein wenig Patriotismus (ein wenig Intelligenz, wer kümmert sich auch nur einen Dreck um Patriotismus!) einzuflößen.
    »Gerald Nathan Crove, Sie haben die Beschuldigungen, die gegen Sie erhoben werden, gehört. Bitte treten Sie vor, und äußern Sie Ihre Entgegnung.«
    Jerry stand auf und ging, so hoffte er, mit der gebotenen Würde zu dem auf den Fußboden geklebten X, bei dem er auf Geheiß des Anklägers stehen sollte. Er schaute zu der Kamera mit dem roten Licht hinüber und starrte sie intensiv an und überlegte, ob es nicht besser wäre, einfach nolo contendere zu sagen oder sogar schuldig, um es sich leichter zu machen.
    »Mr. Crove«, intonierte der Richter, »Amerika schaut zu. Bekennen Sie sich schuldig?«
    Und wie Amerika zuschaut. Und Jerry öffnete den Mund und sprach. Es war nicht die lateinische Version, sondern die englische, die er schon so oft aus dem Kopf hergesagt hatte:
    »Es gibt eine Zeit für Mut und eine Zeit für Feigheit, eine Zeit, da ein Mann denen nachgeben kann, die ihm Milde versprechen, und eine Zeit, da er um eines höheren Zieles willen

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