Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
er eine kleine Biogärtnerei betrieben. Andere machen das als dynamische Gruppe, verbringen ein paar beste Jahre ihres Lebens, bis die Gruppe und damit auch das Geschäft auseinanderbricht. Nicht so Ricardo. Er betrieb stur seine Ein-Mann-Gärtnerei. Doch dann verließ ihn die Frau, und ein halbes Jahr später ging die Firma ein. Heute arbeitet er in einer Sägerei. An seinem Arbeitsort angekommen, setzt er sich den Gehörschutz auf und fährt mit einem Seitengabelstapler Holzbretter herum. Die Kollegen lassen ihn in Ruhe. Er ist damit glücklich, wie er nur sein kann.
Der Sieger eines Spiels setzt aus, der Verlierer spielt gegen den Dritten weiter. Das ist unser Modus. Die Loge ist erfüllt von dem leisen Knurren und Brummeln alter Männer und dem Klick und Klack der hölzernen Steine. Zwischendurch machen wir gemeinsam Pause. Wir betrachten den fein gepunkteten Nachthimmel und jeder fliegt in seinem Verstand weg von allem irdischen Tumult, taucht ab in endlosen Sternennebeln.
Ricardo kehrt als Erster zurück. »Zauberhaft, dieses Universum«, sagt er in die Stille hinein, »dennoch die Frage: Ist es nicht zu groß für uns? Wem macht diese Weite und die Wirrnis nicht Angst? Wer schafft es, durch dieses Lebenstoben hindurchzugehen, ohne jemals den Fluchtreflex zu verspüren?«
Er lässt sich auf mein marokkanisches Kanapee plumpsen.
»Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen«, erwidere ich. »Sagt mein Autor.«
Ricardo hebt hilflos die Schultern. »Schützt uns das vor den Dingen?«
»Die Frage ist vielmehr«, sage ich, »schützt uns das vor uns selbst? Die zweite Frage ist: Haben wir uns selber derart torturiert, bis wir so verdreht waren, wie wir heute sind?«
Giorgio schaut zu mir hinüber. »Schön gesagt. Jetzt hört meine Geschichte. Vor langer Zeit habe ich einen Mann gekannt, einen Fischer von der Insel Capraia. Er hieß Paoli, wie der große Befreier Korsikas. Als ich Paoli zum letzten Mal sah, war er siebenundachtzig, das muss vor ungefähr vierzig Jahren gewesen sein. Sein Bart ging bis hier«, Giorgio hält die Hand auf die Höhe seines Bauchnabels, »und ein Auge war aus Glas. So. Dieser Mann hatte eine derartige Angst vor dem Meer, dass er jedes Mal, bevor er in seinem Boot hinaustuckerte, Gott eine Stunde lang verwünschte und anschließend seine ganzen Habseligkeiten in eine riesige Seekiste packte, die im Flur seines Hauses stand. Auf dem Deckel war ein Brief befestigt, für die Nachwelt. Wenn er zurückkam, entschuldigte er sich bei Gott, packte alles wieder aus und richtete sein Haus – es bestand nur aus einer Küche und einer Schlafkammer – neu ein. Er rechnete bei jeder Fahrt schlichtweg nicht damit, dass er zurückkäme. Dieser alte Hallodri. Er heiratete übrigens nie, weil er die Verwünschungen keiner Frau antun wollte. Wie gesagt, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er siebenundachtzig und putzmunter.«
Giorgio schweigt.
»Gute Geschichte«, sagt Ricardo.
Wir schenken neu ein und bestaunen das Farbspektrum in unseren Gläsern. Jerez-Glück, Wermut-Idylle, Pastis-Pastorale.
Die Troika, ein klandestiner Altherrenklub, vor aller Welt verborgen. Es geht uns gut. Doch an der Tür unserer Loge wartet die Tragik als humorloser Aufpasser. Sobald wir Schwäche zeigen, schnappt er zu. Deshalb sind wir albern, schusselig, tordu .
Lange mustere ich Giorgios Züge. Noch immer sehe ich in ihnen Spuren des Entzückens über die erzählte Geschichte. Aber ganz kurz sehe ich auch, wie seine Augen zittern, als ob sie sich für immer vor der Welt verschließen wollten. Sogleich kehrt das Grinsen zurück. Giorgio liebt seine eigenen Geschichten. Sie machen ihn glücklich, wie er nur sein kann.
Ricardo und ich kannten uns bereits seit vier oder fünf Jahren, als er sein Fahrrad unten beim Waldrand in den Bach fuhr. Er konnte nicht mehr aufstehen, schämte sich aber, nach Hilfe zu rufen. Da tauchte über der Böschung Giorgios Kopf auf. Giorgio zerrte ihn hoch, lud ihn auf seinen krummen Rücken, in den Fingern das Netz mit den Katzenfutterdosen. Drei Wochen lang saß Ricardo mit zwei gebrochenen Zehen zu Hause und konnte sich kaum rühren. Giorgio schaute jeden Tag bei ihm vorbei, und Ricardo sagte jedes Mal: »Danke, schon gut. Ich komme zurecht.« Giorgio ignorierte die Bemerkung, machte Tee, räumte auf. Wenn er damit fertig war, stellte er sich vor Ricardos Bücherregal und begann, halblaut die Buchtitel lesen:
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