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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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Abklärungen vornehmen zu müssen. Er kam zu mir: »Gustavo, das kommt mir nicht koscher vor. Wir müssen etwas unternehmen, sonst geht Giorgio uns verloren.« Also ging ich zum Oberarzt. Ich ging zur Polizei, ich ging zum Einwohneramt, zum Gemeindeschreiber. Alle sprachen von Gefährdung und Maßnahmen, und ich dachte: Ricardo hat recht gehabt, Giorgio geht uns verloren. Also setzte ich ein paar Hebel in Bewegung. Ich kann das. Es geht darum, wie man vor den Leuten auftritt. Seit diesem Vorfall bin ich Giorgios Schutzengel.
    Aus seinem Griechenland hat Giorgio sein Korsika gemacht. Doch auch für den, der das weiß, gibt es genug Lücken in seinem Leben. Ich bezweifle, dass Giorgio sie selbst füllen könnte. Meine damaligen Recherchen ergaben, dass seine Eltern wahrscheinlich Kommunisten gewesen waren und im griechischen Bürgerkrieg gekämpft hatten. Kann sein, dass er eines jener Kinder war, die damals zu Tausenden in kommunistische Länder wie Jugoslawien oder Albanien gebracht wurden. Um sie vor dem Bürgerkrieg zu schützen, wie die Partisanen sagten. Um sie zu Partisanen zu erziehen, wie ihre Gegner sagten. Viele dieser Kinder fanden nach dem Krieg den Weg in ihre Heimat nicht zurück. Wie Giorgio letztlich in die Schweiz kam, konnte ich nicht nachvollziehen. Und was mit ihm in diesem Land passierte, bevor er in unser Dorf kam, auch das fand ich nie heraus. Auf jeden Fall ist Giorgio bereits ein paar Mal verloren gegangen. Wer weiß schon, wie die Dinge wirklich liegen. Wer weiß, wie Giorgio die Dinge sieht. Und was die Angst und der Fluchtreflex aus ihm machen.
    Ricardo und ich haben damals entschieden, dass es besser ist, wenn Giorgio nichts von seinem Schutzengel weiß. Aus verschiedenen Gründen bin ich es, und nicht Ricardo. Erstens wegen des Auftretens, zweitens wegen des Geldes. Manchmal muss ich eine Rechnung bezahlen, Ricardo könnte das nicht. Ich fühle mich nicht unbedingt wohl dabei, und ich denke, dass das alles ohnehin nichts hilft. Denn eines Tages wird Giorgio nicht mehr da sein, und niemand wird etwas wissen. Und vielleicht ist auch die Geschichte über seine griechische Vergangenheit falsch. Ich werde es wohl nie herausfinden.
    Die Troika beendet die heutige Spielrunde. Giorgio war wieder einmal nicht zu schlagen. Er ist zufrieden. Ricardo hat selbstgemachte Amaretti mitgebracht. Wir tun überrascht, obwohl er jedes Mal etwas Selbstgemachtes mitbringt. Giorgio und ich trinken Kaffee, Ricardo kann nicht: »Ein Schluck und mein Herz wummert zwölf Stunden lang.« Er nimmt noch zwei Fingerbreit vom goldenen Sherry.
    Köstlich, die Amaretti. Giorgio greift gerne zu. Er kennt da keine Hemmungen. »Man foll effen, wenn ef fich lohnt, fonft läfft man ef bleiben«, sagt er und nimmt sich noch ein Stückchen.
    »Banale Einsicht, aber bedenkenswert«, erwidert Ricardo.
    »Überhaupt nift banal«, sagt Giorgio und schluckt, so dass sein Adamsapfel tanzt. »Es gibt Indianer in Brasilien, die leben konsequent nach dieser Maxime. Manchmal hungern sie tagelang, ohne dass ihre Fröhlichkeit darunter leidet. Noch nie ist einer von ihnen verhungert oder an Überfettung gestorben, nie. Essen, wenn es etwas zu essen gibt, da kommen wir her. Frag den Paläontografen.«
    Ich huste. Giorgio bedient sich erneut.
    »Ja«, sage ich, »schon wahr. Unsere berühmte Vorfahrin Lucy hat vor drei Millionen Jahren Aas gegessen. Die Australopithecinen haben wahrscheinlich noch nicht gejagt. Aber sie brauchten Fleisch. Also haben sie den Himmel nach Aasgeiern abgesucht und sind ihnen gefolgt.«
    »Aas«, ruft Ricardo.
    »Ja, Aas«, sagt Giorgio und gluckert, »da kommen wir her. Der Paläontokrat hat’s gesagt.«
    Es ist zwanzig Minuten nach Mitternacht. Wir haben Likör und Schnaps getrunken, wir haben mediterrane Häppchen gegessen, wir haben gespielt. Ich glaube, wir sind wieder für ein paar Tage versöhnt.
    Mein Gesellschaftsverlangen ist mit diesen Abenden gestillt, mein Glücksverlangen ebenfalls. Mehr brauche ich nicht. Wie Haselnüsse passen meine Bedürfnisse in eine Hand, die in eine Hosentasche passt. Wer in einer solchen Familie aufgewachsen ist wie ich, wer diese Familie für immer verlassen hat, hält Glück für eine überschaubare Größe. Ich hätte damals jemand anders werden sollen, die Fußstapfen eines Patriarchen hatten auf mich gewartet, ein Leben wie eine Kuchenform, doch ich passte da nicht hinein. Der Patriarch hat gedrückt, gequetscht, gezerrt, es tat weh. Der Sprung vom Tellerrand meines

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