Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Ricardo.
Als Philologe agiere ich nur am Wochenende. Von Haus aus bin ich Paläontologe, allerdings grabe ich kaum mehr. Die Reisen, die Klimawechsel, die Stechmücken, das ist mir alles zu viel. Ich kommentiere, nicke dem einen Kollegen zu und tadle den andern sanft. In der Forschung genieße ich durchaus eine gewisse Achtung, obschon ich als Außenseiter gelte. Es macht mir nichts aus, denn ich gehörte nie irgendwo dazu. Nachdem ich vor vielen Jahren vom Rand des falschen Tellers, auf dem mein inzwischen fast vergessenes Leben stattfand, den Sprung gewagt habe, sitze ich jetzt immerhin am Rand des richtigen Tellers. Es war ein Sprung im letztmöglichen Moment. An meinem neuen Rand bin ich glücklich, wie ich nur sein kann.
Vielleicht hat die ganze Heimlichtuerei der Troika damit zu tun, dass unser Daseinszweck, die Versöhnung, uns Angejahrten unstatthaft vorkommt. Ja, wir schämen uns. Doch wir wissen auch, dass die Scham kostbar ist, denn sie ist unser Innerstes. Es gibt nichts Banaleres als ein Zitat von Freud, aber jener Mann, der Menschenkunde als Aphoristik betrieb, sagte einmal: »Der Verlust von Scham ist das erste Zeichen des Schwachsinns.« Ich sage es so: Scham ist der Mantel, in den sich unsere Intelligenz hüllt. Und die gläserne, aber versteckte Loge der Troika ist ein Brützentrum, in dem sich drei alte Hasardeure verstecken und Versöhnung mit den Zeiten betreiben. Was für ein Fest!
Wir heben die Gläser. Sie schimmern in Bernsteinbraun, Blondgelb und Milchigweiß. An meinem großen Tisch gleitet jeder still in sein eigenes Wohlbefinden. Jerez-Wonne, Wermut-Friede, Pastis-Plaisir. Oliven stehen da, frisches Brot, etwas Rohschinken, Sardellen, eingelegte Peperoni. Während wir langsam essen und trinken, wenden sich unsere Gedanken unseren intimsten Feinden zu: der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft.
»Ein dunkler Friede«, sagt Giorgio und lässt einen Schluck Pastis den Rachen hinunterrinnen. »Wenig spricht dafür, und doch geht’s uns gut.« Er verzieht sein Gesicht, das wie geknetet aussieht.
»Hm«, sagt Ricardo, »man kann es auch anders formulieren: Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.« Giorgio nickt wissend, ich flöte kaum hörbar durch die Nase.
»Herr seiner Selbst sein, darum geht es«, fährt Ricardo fort.
»Durchaus«, wende ich ein, »aber muss der Wille bei deinem Freund stets Hiebschwert sein? Muss der Wille immer vor dem ganzen Publikum seine Muskeln spielen lassen?«
»Die Frage ist«, sagt Ricardo und pickt sich eine Olive, »die Frage ist: Wessen Wille? Gramsci geht es nie um den Einzelnen. Um alle zusammen geht es. Gramsci ist der Denker des Kollektivs.«
»Durchaus«, wende ich abermals ein, »aber wer ist das Kollektiv? Und vor allem: Wann spricht es?«
»Ja, wann spricht es?«, setzt Giorgio nach. Sein Gesicht neu in die alte Form geknetet.
»Es spricht«, sagt Ricardo und hüstelt, »durch die gemeinsame Tat. Irgend so was. Was weiß ich.«
»Aha.« Ich trinke. »Die Tat.«
»Hört mal. Gramsci zu verstehen war noch nie einfach. Wer macht sich heute noch die Mühe?« Ricardo hebt die Arme in die Luft. »Niemand. Allein auf weiter Flur.«
Ich kenne tatsächlich keinen, der Gramsci so gründlich gelesen hat wie Ricardo. Er kann ganze Absätze wörtlich zitieren. Antonio Gramsci, der italienische Revolutionstheoretiker, ist Chiffre für Ricardos Unfrieden, für seinen Hang zur Tragik. Ricardo glaubt noch immer, seinen Gramsci nicht verstanden zu haben. Aber er irrt sich. Er hat Gramsci sehr wohl verstanden.
»Wir werden alt«, sagt Ricardo, »wir alle. Wer in dieser Gesellschaft soll noch Gramsci lesen? Gramsci ist ein Autor für die Jungen. Doch was machen die Jungen heute? Ich weiß es nicht. Wisst ihr es?«
»Gramsci macht uns größer, als wir sind«, erwidere ich. »Mein Autor hingegen sagt: ›Bedenke, dass du nur Schauspieler bist in einem Drama, das der Spielleiter bestimmt.‹«
»Das musste ja kommen. Epiktet, der Anwalt aller Duckmäuser dieser Welt.« Ricardo verwirft die Hände. Schon wahr, es gibt keinen, der sich im Epiktet so zurechtfindet wie ich. Ständig zitiere ich ihn. Ich habe ihn schließlich komplett übersetzt. Epiktet ist Chiffre für meine wühlende Suche nach Frieden, für meinen Hang zur Versöhnung.
»Wir alle sind Duckmäuser. Oder sind wir etwa keine Menschen?«, sage ich.
»Freilich«, sagt Ricardo, »aber wir sind keine ehemaligen Sklaven wie Epiktet.«
»Sicher. Wir sind vergammelte Auslaufmodelle
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