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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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»Das Totenschiff – Rasputin – Schall und Wahn.« Ricardo verdrehte die Augen. »Anleitung zum Unglücklichsein – Die Theorie der feinen Leute – Die Gefängnishefte.« Ricardo seufzte leise.
    Dann sagte Giorgio: »Gramsci war Albaner.«
    »Was?«
    Giorgio zog das Buch aus dem Regal. »Antonio Gramsci, der Autor dieses Buchs. Er war Arbëresh.«
    »Bitte?«
    »Arbëresh, die albanische Minderheit in Süditalien. Nach Skanderbegs Tod wanderten die ersten von ihnen aus, seit fünfhundert Jahren sind sie da, byzantinische Katholiken.«
    Ricardo wechselte die Position auf seiner Pritsche. »Gramsci war Sarde«, sagte er.
    »Eben. In Ales geboren, als Arbëresh. Sein Großvater war aus Albanien gekommen. Ich kenne Ales, war ein paarmal da.«
    »Möglich. Gramsci ist der vielleicht größte Denker des zwanzigsten Jahrhunderts«, sagte Ricardo.
    »Aber wem nützt es? Was die Roten im zwanzigsten Jahrhundert angerichtet haben, konnte auch ein Gramsci nicht verhindern. Die Arbëresh sprechen übrigens toskisch.«
    Ein paar Tage später lernte auch ich Giorgio kennen, und die Troika feierte ihre erste Abendséance.
    Mit ihm begann das mit den Namen. Ich weiß nicht mehr, was der Auslöser gewesen war, es entsprach einfach dem Geist unserer Zusammenkünfte. Erst war es wie ein Spiel mit Masken, doch nach und nach verliehen uns die neuen Namen eine andere Identität. Im Geiste sind wir Griechen, denn wir glauben an die Rhetorik, an das Palaver, an das Wort. Wir geben uns italienische Namen, denn wir glauben, dass jede Tragik eine komödiantische Seite hat. Wir spielen ein indisches Brettspiel, denn wir glauben an Vishnu, den ewigen Erhalter und Versöhner.
    Wir stellen die Gläser hin und spielen weiter. Giorgio ist ein Meister, wenn es darum geht, einen Stein ganz knapp zu versenken. Als ob ein Lufthauch dem Stein noch den letzten Rest geben würde, dann kippt er ins Viertelkreisloch.
    »Was hast du eigentlich auf Capraia gemacht?«, fragt Ricardo.
    Giorgio legt den Kopf flach auf den Rand des Bretts, schätzt die Aussichten seines Vorhabens ab. »Capraia liegt ein kleines Stück vor dem Zeigefinger Korsikas, Cap Corse«, sagt er.
    »Ja?«
    »Nun, ich komme von den Bergen, aber ich hatte Sippe in Bastia. Einer der Onkel verkaufte Ziegen- und Rindfleisch auf Capraia. Einmal die Woche ging er hinüber. Die Ziegen von Capraia sind geschützt, die dürfen sie nicht schlachten, und das fade Fleisch aus Italien wollen sie nicht. Das Geschäft meines Onkels mit Capraia hatte selbstverständlich keinen offiziellen Status, wenn ihr versteht, was ich meine.«
    Langsam setzt Giorgio den Zeigefinger an, lässt ihn vorschnellen, der Striker gleitet, stößt den gesuchten Stein an, der Stein rutscht seinem Untergang entgegen.
    »Und Paoli war der Abnehmer des Fleisches?«, fragt Ricardo weiter.
    »Nein, nein. Paoli hat nur seinen Fisch gegessen. Abnehmer war der Einbeinige.«
    »Aha. Der Einäugige und der Einbeinige.«
    »Genau. Inselmenschen leben gefährlich.«
    Die Troika. Vielleicht ist sie nicht mehr als eine seelische Prothese. Ricardo hat eine Familie verloren, seinen Sohn hat er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Auch für mich gibt es keinen Weg zur Familie zurück, und das soll so bleiben. Ich bin keineswegs versöhnt, aber es geht mir gut. Die Troika hat einen wichtigen Anteil daran.
    Ricardo und ich werden wohl nie erfahren, was die Troika für Giorgio bedeutet. Ich bin sicher, auch seine Seele braucht das eine oder andere Ersatzteil. Doch woher kommt dieses Labyrinth von einer Seele, die jeden Tag neue Räume entblößt, um sich dann wieder ganz zu verschließen? Was ist Giorgios Kern? Jedem – auch dem, der nicht nachfragt – erzählt er von seiner Heimat Korsika. Giorgios Leben ist auf unglaubliche Weise mit der Geschichte dieser Insel verwoben, alle Protagonisten der korsischen Geschichte tauchen früher oder später in den Erzählungen über seine Familie auf. Aber die Sache ist komplizierter.
    Giorgio ist kein Korse. Wer weiß, ob er überhaupt jemals auf Korsika gewesen ist. Geboren wurde er in Griechenland. Seit wann er hier lebt, weiß niemand. Es gab da vor einigen Jahren einen Vorfall. Giorgio lag bewusstlos im Wald, am Kopf blutete er stark, ein Spaziergänger fand ihn. Giorgio wurde ins Krankenhaus gebracht. Er war schnell wieder aufgepäppelt, Giorgio ist robust, aber man behielt ihn länger dort als nötig. Ricardo ging hin, fragte nach, man wimmelte ihn ab mit der Begründung, einige

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