Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
und wollen nur ein bisschen Frieden haben auf unsere alten Tage.«
»Du bist erst siebenundfünfzig, mein Freund. Das ist kein Alter.«
Ich schmunzle und kraule mir den Bart. Ricardo hebt das Glas an den Mund.
»Die Jungen stehen auf der Straße herum, während ihre Gedanken ihnen wie Geweihe aus dem Kopf wachsen«, sagt Giorgio.
Ricardo und ich betrachten unseren Freund, als ob er ein Kunstwerk wäre.
»Sie glauben, die Tage hätten kein Ende«, fährt er fort, »ich wünschte, dieser Glaube wäre mir erhalten geblieben.«
Ich möchte etwas darauf antworten, aber für einmal bin ich ratlos. Ricardo scheint es genauso zu gehen. Wir schweigen.
Es dunkelt ein. Die gläserne Loge ist ein Wintergarten hoch oben auf dem Dach meines Hauses. Von der Straße her sieht man sie nicht. Wir aber sehen die Ränder des Dorfes und darüber hinaus, wir sehen das Licht von schweigenden Siedlungen und einen Zug, der wie ein glühender Tausendfüßler durch die Landschaft kriecht. Ricardo zeigt nach Osten. Am Ende des Dorfes, von hier aus noch knapp zu sehen, leuchten grelle Scheinwerfer in den Himmel. »Explosion bei der Fabrik heute Nachmittag. Ein Arbeiter hat am falschen Ort geraucht«, sagt er. Den Frieden gesucht und dabei den Unfrieden aufgeschreckt, denke ich und knabbere letzte Fleischreste von einem Olivenkern. Giorgio kratzt sich im Haar. Es klingt wie ein Holzwurm bei der Arbeit.
Als ob seine Hand auf dem Kopf das Zeichen wäre, stehen wir auf. Ich nehme das Brett von der Wand, Giorgio holt das Säckchen mit den Steinen aus der Schublade. Unser Spiel heißt Carrom, Ricardo nennt es Carambole. Eines unserer Lieblingsmittel zum Zwecke unseres Daseins. Alte Männer spielen einfache Spiele. Auf der ganzen Welt ist das so. Domino, Pétanque, Mahjong, Carrom. Man könnte auch aufwendige Spiele mit allerlei Schikanen spielen, aber darum geht es nicht. In der Welt von angejahrten Männern geht es um Versöhnung. Also nur einfache Spiele.
Carrom stammt aus Indien. Vor bald dreißig Jahren hatte ich ein Spielbrett dabei, als ich von einer Ausgrabung in Uttar Pradesh zurückkam. Ich machte die Reise mit zwei Kollegen im VW -Bus, über Pakistan, Afghanistan, Iran, die Türkei, Jugoslawien. Viele Jahre hing das Brett an der Wand. Dann lernte ich Ricardo kennen, und er forderte mich umgehend heraus.
Es ist sehr praktisch für uns, dass immer einer pausiert. Wir sind Leute, die viel nachdenken müssen. Während die zwei Spielenden die flachen Steine über das Brett gleiten lassen, schenkt sich der Dritte nochmals ein, holt ein weiteres Glas Oliven aus dem Kühlschrank, ein bisschen mehr Schinken, Käse. Er steht am Fenster der Dachloge, denkt nach. Dann setzt er sich hin, verfolgt die Wege der Steine, taxiert schweigend die Konzentration, die sich in den Fingerspitzen der Spielenden ansammelt.
Die Troika kommt uns vor wie eine lebenslange Affäre. Natürlich hat es sie nicht immer gegeben. Die Umstände meines Lebens haben mich zum akademischen Spätzünder gemacht, erst mit zweiunddreißig hatte ich den Abschluss, mit sechsunddreißig das Doktorat, zwei Jahre später wurde ich Oberassistent. In jenem Jahr lernte ich Ricardo kennen. An einem schwülen Sommertag wurde mir auf dem Nachhauseweg schwindlig, so dass ich mich hinsetzen musste, aber da gab es keine Bank, also setzte ich mich auf das Trottoir. Vor meinen Augen dämmerte eine beengende Schwärze, ich sank zu Boden. Da erschien Ricardo als Schatten vor dem Blau des Himmels, wie ein borstiger Engel. Er reichte mir ein Glas Wasser und einen Apfel. Zwei Tage später aß er bei mir, und das Carrombrett fand seinen Weg auf den Tisch. Wir spielten bis in die frühen Morgenstunden.
Ja, wir mochten uns von Anfang an, trotz Gramsci, trotz Epiktet. Ricardos Frau war damals eben mit dem gemeinsamen Sohn davongelaufen. Sie waren eine Familie voller Glaube an die Zukunft und an das Einfache gewesen, doch dieser Glaube hatte sich von Anfang an sehr ungleich auf ihre Mitglieder verteilt. Ricardo sprach selten über diesen Abschnitt seines Lebens. Ich selber stand damals vor der Entscheidung, nach Toulouse zu gehen, eine Assistenzprofessur wartete dort auf mich. Ich blieb hier. Es hätte schiefgehen können, aber ich wollte nicht weg.
Ricardo, merkte ich, ist ein unauffälliger, aber auch ein komplizierter Mensch. Einer mit einer flackernden Vergangenheit und einer Gegenwart, in der es hier und dort noch immer schwelt. Er spricht vom Kollektiv, handelt aber stets allein. Damals hatte
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