Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
damaligen Lebens hat mich gerettet. Jetzt jongliere ich mit den drei Glücksnüssen, die mir geblieben sind: meine Paläontologie, mein Epiktet, meine Freunde. Sie bringen genug Wohlbefinden hervor. Und ich befinde mich am Rand des richtigen Tellers. Darauf kommt es an.
Wir erheben uns. Ricardo hängt das Spielbrett an die Wand, Giorgio drückt sich die letzten zwei Amaretti in den Mund und bringt das Geschirr in die Küche. Ich stelle mich ans Fenster. Meine Welt, denke ich. Sie hat in einem einzigen Abend Platz. Alte Männer brauchen Einfachheit.
Meine Freunde stehen an der Tür und winken. Leise steigen sie die Treppe hinunter. Ich trete in den Türrahmen, blicke ihnen nach. Dann schließe ich die Tür.
Mummenschanz
Ich öffne die Tür und senke den linken Fuß in die Dunkelheit. Die Stufen knarzen, auf der letzten stolpere ich fast über die Pyjamahose. Unten ist der Boden kalt, die Luft aber feucht und warm. Ich knipse die Taschenlampe an. Langsam gleitet der Lichtkegel über eine Wand von Glasscheiben. Die Tiere hinter der Spiegelung sind vollkommen reglos.
Orchideenmantiden sind sehr empfindlich. Wenn man nicht vorsichtig ist, liegen sie von einem Tag auf den anderen tot im Terrarium. Weil sie sich kaum bewegen, vergessen die Leute, dass man sie täglich pflegen muss. Für mich sind Mantiden wie Freunde. Ich erzähle das lieber niemandem, sonst würden mich einige noch komischer finden. Der wissenschaftliche Name der Tiere ist Hymenopus coronatus. Ihre Glieder fügen sich zu winzigen Skulpturen, aber das Schönste an ihnen sind die Augen, lange gebogene Zylinder in blassviolett oder zartrosa. Wie alle Fangschrecken passen sie sich ihrer Umgebung an. Wenn ihre Beute sie mit der Pflanze verwechselt, auf der sie sitzen, hat die Tarnung ihren Zweck erfüllt. Ein Exemplar verkaufen wir für zehn bis zwanzig Franken, je nach Größe und Färbung. Einige der Käufer kommen immer wieder, weil sie unsorgfältig sind oder ihre Kinder die Mantiden aus Versehen zerquetschen. »Sie behandeln die Tiere wie Spielzeug«, sage ich zu Mutter. Aber Mutter stört das nicht.
Seit zwanzig Jahren züchtet sie Mantiden. Vater gefällt ihre Beschäftigung nicht, doch sie verdient ein bisschen Geld damit, und deshalb schweigt er. Er hat sogar den Keller ausgebaut und Regale für die Terrarien geschreinert. Klar, er hat es vor allem deshalb gemacht, weil er die Tiere nicht mehr in der Wohnung haben wollte, aber trotzdem. Er respektiert Mutters Wissen. Manchmal rufen Menschen von weit her an und fragen sie um Rat. Die Züchtung gilt als schwierig, und bereits die Paarung ist gefährlich. Es geschieht nicht selten, dass ein Mantidenweibchen das Männchen aus Versehen auffrisst. Dann kann man von vorne anfangen. Sitzt das Männchen aber einmal auf dem Rücken des Weibchens, lässt es sich nicht mehr abschütteln. Die Paarung kann gut und gerne einige Stunden dauern. Manchmal stirbt das Männchen danach, ohne aufgefressen zu werden. Wenn die Paarung geklappt hat, bauen die Weibchen eine Oothek, so nennt man ihre Eipakete. Etwa sechs Wochen später schlüpfen die Larven. Da ich wissenschaftlicher Illustrator werden will, zeichne ich jedes unserer Tiere ab.
Fred und Igor lasse ich nur ungern in den Keller. Sie fragen ständig, aber nachdem Fred einmal eine Mantis befingert hat und diese am nächsten Tag braun war, wimmle ich ab. Mutter sagt: »Nicht so schlimm, er wusste es ja nicht«, aber ich finde, Fred könnte besser aufpassen, selbst wenn er von der Sache nichts versteht.
Auch Fred und Igor finden mich komisch. Das mit den Mantiden verstehen sie genauso wenig wie mein Interesse für Schach. Fred sagt: »Bei den Mädels hast du mit diesen Heuschrecken und Schach die schlechtesten Karten in der Hand. Ist dir das klar? Du musst das ändern, sonst kriegst du nie eine ab.«
Nun, Fred hat auch noch nie eine abgekriegt. Igor sowieso nicht, aber ihn stört das kein bisschen. Auch Igor ist manchmal komisch. Fred hat einmal bei ihm durchs Stubenfenster beobachtet, wie er seiner Mutter die Füße massierte und die Mutter dabei mit Grunzen und Quieken nicht mehr aufhörte, während er selbst laut gluckste. Aber Igor kann nichts dafür. Es ist die Mutter.
Mir selber macht das Komischsein nichts aus. Doch ein paar Dinge gibt es, die auch Fred und Igor nicht unbedingt zu wissen brauchen. Zum Beispiel meine Vorliebe für Dytiscidae. Außer meinen Eltern weiß niemand etwas davon, und verstehen tut es eigentlich nur Mutter. Ich kann nicht
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