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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ukrainisches Mädchen in
     den Westen geht – all die Gerüchte und Geschichten aus der Zeitung.
    »Jeder weiß, dass solche Sachen nur dummen, ungebildeten Mädchen passieren, Mutter. Mir passiert so was nicht.«
    »Bitte, wenn Sie mir sagen, was die Abzüge sind, werde ich versuchen, sie zu begleichen.«
    Ich blieb ganz kultiviert und höflich. Sein Chromzahn blitzte.
    |15| »Kleinerr Blume, erst kommt Abzüge, dann du kriegst Geld. Gibt nix zu sagen. No prroblem.«
    »Und Sie geben mir meinen Pass zurück?«
    »Genau. Du arbeit, du kriegst Passprrt. Du nix arbeit, du nix Passprrt. Jemand macht Besuch bei deine Mama in Kiew, sage Irina
     nix gut arbeite, mache große Prroblem für Mama.«
    »Ich habe gehört, dass in England   …«
    »Heute England ist anders, kleinerr Blume. Heute England ist Land von Chance. England nix wie in dein Schulbuch.«
    Ich dachte an den schneidigen Mr.   Brown aus
Let’s Talk English
– wäre er nur hier gewesen!
    »Sie beherrschen das Englische ausgezeichnet. Und das Russische vielleicht?«
    »Englisch. Russisch. Serbokroatisch. Deutsch. Alle Sprachen.«
    Er betrachtete sich also als Linguist, na schön. Sollte er weiterreden.
    »Aber Sie sind nicht in diesem Land geboren, vermute ich, oder, Mister Vulk?«
    »Vermut was du willst, kleinerr Blume.« Er zwinkerte mir lüstern im Spiegel zu und ließ den Silberzahn aufblitzen. Dann begann
     er den Kopf von links nach rechts zu werfen, als wollte er seine Schuppen abschütteln.
    »Gefällt dir? Finde attraktiff?«
    Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, dass er von seinem Pferdeschwanz sprach. Versuchte er etwa zu flirten? Auf einer
     Skala der Attraktivität von eins bis zehn würde er von mir eine Null bekommen. Für einen Menschen von höchster Unkultiviertheit
     bildete er sich ganz schön was ein. Schade, dass Mutter nicht hier war, um ihm den Kopf zu waschen.
    »Absolut unwiderstehlich, Mister Vulk.«
    |16| »Gefällt dir? He, kleinerr Blume? Willst du anfassen?«
    Der Pferdeschwanz hüpfte auf und ab. Ich hielt die Luft an.
    »Mach schon. Hrr. Du kannst anfassen. Mach schon«, verlangte er mit öliger Verzückung.
    Ich streckte die Hand aus, die immer noch fettig war und nach Pommes roch.
    »Mach. Ist schön für dich.«
    Ich berührte seine Haare – sie fühlten sich an wie ein Rattenschwanz. Dann bewegte er den Kopf, und der Schwanz zuckte wie
     der einer lebendigen Ratte.
    »Frauen macht scharf, weil solche Haar ist wie männlicher Oggan.«
    Wovon zum Teufel sprach er jetzt?
    »Oggan?«
    Er machte eine hässliche Geste mit den Fingern.
    »Keine Angst, kleinerr Blume. Erinnert dich an dein Freund, he?«
    »Nein, Mister Vulk, denn ich habe gar keinen Freund.«
    Ich merkte sofort, dass ich einen Fehler gemacht hatte, aber da war es leider schon zu spät. Es war mir einfach so herausgerutscht,
     und zurücknehmen konnte ich es nicht mehr.
    »Kein Freund? Wie, so kleinerr Blume hat kein Freund?« Jetzt war seine Stimme wie warmes Pommesöl. »Hrr. Vielleicht ist meine
     Chance?«
    Was für ein blöder Fehler. Jetzt hat er dich. Jetzt bist du dran.
    »Vielleicht wir mache gute Chance, hrr?« Tabakrauch und Zahnfäule kamen aus seinem Mund. »Kleinerr Blume?«
    Draußen vor den getönten Scheiben flogen Wälder vorbei, sonnengesprenkeltes Laub. Wenn ich mich nur aus dem Auto werfen könnte,
     die grasbewachsene Böschung hinunterrollen |17| und zwischen die Bäume rennen. Doch wir waren viel zu schnell. Ich schloss die Augen und tat so, als wäre ich eingeschlafen.
    Wir fuhren vielleicht zwanzig Minuten, ohne zu reden. Vulk zündete sich noch eine Zigarre an. Durch gesenkte Wimpern beobachtete
     ich, wie er übers Lenkrad gebeugt vor sich hin paffte. Paff. Paff. Stink. Wie weit konnte es noch sein?
    Dann knirschte Kies unter den Rädern und mit einem letzten jähen Ruck kam die Mafiakutsche zum Stehen. Ich öffnete die Augen.
     Wir standen vor einem hübschen, spitzgiebligen Bauernhaus in einem sommerlichen Garten, mit Stühlen und Tischen draußen auf
     dem Rasen, der zu einem klaren, seichten Bach hin abfiel. Das war England, wie es sein sollte. Jetzt lerne ich endlich normale
     Menschen kennen, dachte ich. Sie werden Englisch mit mir sprechen, und sie werden mir Tee anbieten.
    Doch das taten sie nicht. Ein pummeliger, rotgesichtiger Mann in schmutzigen Kleidern und Gummistiefeln kam aus dem Haus –
     der Bauer, nahm ich an – und half mir aus Vulks Wagen, wobei er etwas murmelte, das ich nicht verstand, doch es war

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