Carpe Somnium (German Edition)
realitätsgetreue Modell eines menschlichen Gehirns erschien. Ambrose trat ein, hinter ihm glitt lautlos die Tür ins Schloss.
»Wo ist Dad?«
»Hier, Ambrose, entschuldige.« Die tief und voll tönende Stimme drang aus einem Bereich schwach summenden Negativraums, der die Gedankenmuster und die Persönlichkeit von Martin Truax abbildete. Ambroses Vater lebte ausschließlich in Unison und erschien zu besonderen Anlässen und Vorstandssitzungen als Projektion im Büro der realen Welt. Sein leibhaftiges Selbst befand sich in permanenter Stasis an einem Ort, der so geheim war, dass nicht einmal seine Söhne ihn kannten.
»Was ist los?«, fragte Ambrose, der Mühe hatte, in dem verschwommenen Fleck irgendwelche Konturen auszumachen.
»Schwierigkeiten mit der Bandbreite«, erklärte sein Vater und zitterte leicht. »Hab gestern Abend Chens Team feuern müssen. Konnte zur Überbrückung ein paar Ressourcen umleiten. Der Großteil von Unison ist nicht betroffen, aber es gibt da noch zwei, drei Back-End-Probleme, die gelöst werden müssen.«
Ambrose nickte und versuchte, sich das Gesicht von Mr Chen ins Gedächtnis zu rufen. Programmierer und Process-Flow-Mitarbeiter gingen sich möglichst aus dem Weg.
»Ich wollte ihn schon letztes Jahr loswerden«, sagte Len. »Wenn du auf mich gehört hättest, wär dir einiges erspart –«
»Ah!« In dem diffusen Grau begannen sich schwach leuchtend feinste Linien abzuzeichnen wie Blitze in einer Wolke. Die Linien verbanden sich, und der Umriss eines Menschen wurde sichtbar. Während das Energielevel von Martin Truax’ Projektion auf die hundert Prozent zulief, wurde es in dem Raum deutlich heller. An dessen anderem Ende erschienen jetzt zwei Techniker, die man zuvor nicht hatte sehen können und die sich auf einer erhöhten Plattform hektisch an der schimmernden Scannerröhre zu schaffen machten. Len vaporisierte seinen Datenstrom und wartete, bis der Schöpfer von Unison seine Ankunft abgeschlossen hatte.
Ihr Vater war einundsiebzig Jahre alt, sah jedoch keinen Tag älter aus als vierzig. Und das verdankte er nicht etwa allein einer vorteilhaften Projektion: Sein Leben lang hatte Martin Truax sich die besten Anti-Aging-Modifikationen zunutze gemacht, die die Welt zu bieten hatte, war jedes Jahr für exklusive, noch unerprobte Behandlungen in die Freie Asiatische Union gereist. Ambrose sah zu, wie das sandfarbene Haar seines Vaters Gestalt annahm. Es wirkte stets ungekämmt wie kurz nach dem Aufstehen, in krassem Gegensatz zu seiner ansonsten makellosen Erscheinung: blauer Anzug, kastanienbraune Manschetten, gesticktes goldenes UniCorp-
U
auf dem Revers.
Die Techniker am anderen Ende des Raums hielten inne und starrten herüber. Selbst in der Projektion konnte man Martin Truax’ kinetischer Kraft unmöglich widerstehen. Er war ein glühendes Adergeflecht, energiegeladen und ehrgeizig. Ambrose straffte sich, als die vertraute Mischung aus Stolz und Beklemmung ihn durchströmte.
Martin Truax lächelte und streckte seinem jüngsten Sohn die Hand hin. Ambrose ergriff sie, und sein Handflächen-Rezeptor schickte mit einem Kribbeln falsche Sinnesreize durch seinen Arm. Es fühlte sich genauso an, als würde er eine echte menschliche Hand schütteln.
Sein Vater zwinkerte ihm zu, dann kam er sogleich zur Sache und begann, Befehle zu geben. Die Techniker überschlugen sich geradezu. Ambrose folgte seinem Bruder hinüber zur Scannerröhre, deren Abdeckung zur Seite glitt und den Blick auf eine glatte, nahtlose Stahlfläche freigab – abgesehen von einem winzigen Loch für den Strahl des Mikroskalpells. Ambrose schloss die Augen. Sein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Er hatte die möglichen Reaktionen seines Nervenkostüms viele Male von seinem Process Flow analysieren lassen und wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass er in die Röhre steigen würde.
»Ambrose«, sagte Len erstaunlich sanft, »du wirst nicht das Geringste spüren. Das ist dir doch klar.« Seine begierigen blauen Augen unterbrachen ihr übliches unstetes Flackern und richteten sich beruhigend auf seinen Bruder, der kurz nickte. Ambrose wandte den Blick zurück zu seinem Vater, der gerade dabei war, ganze Codezeilen aus einer angezeigten Programmdatei zu pflücken und durch glühende Zahlenkolonnen von seiner Handfläche zu ersetzen. Len legte Ambrose eine Hand auf die Schulter.
»Sieh’s einfach als Beförderung aus der Podcast-Truppe.«
Ambrose lachte. Manchmal konnte Len ganz in Ordnung
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