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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
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bedachte das Stück Luft, das eben noch ihr Vater gewesen war, mit einem wütenden Blick.
    »Du hast genug Daten, um anzufangen, Len«, sagte die Stimme seines Vaters. »Außerdem kommt er gleich wieder.«
    Ambrose sprang auf die Füße und brachte seinen Kreislauf auf Touren.
    »Ich bin stolz auf dich«, sagte die Stimme seines Vaters, als er auf dem Weg zur Tür war. »Und ich liebe dich sehr.«
    Fast wäre Ambrose stehen geblieben. »Hab dich auch lieb, Dad.«
    »Ein besseres Leben in Unison!«, rief Len ihm nach, während er mit der Handfläche die Tür öffnete und durch den stillen Korridor zum Aufzug ging. Dort angekommen, beugte er sich dicht vor den Spiegel und rieb sich die Schläfen, die Wangen, den Nacken. Sein Äußeres jedenfalls war durch die Prozedur nicht verändert worden. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, tastete nach kleinsten Anzeichen für die Drähte, an die er als Baby angeschlossen gewesen war. Im Innern der Scannerröhre war die Erinnerung ihm so real vorgekommen. Warum hatte er einer von Terroristen übertragenen Nachricht erlaubt, ihm Zweifel am wichtigsten Tag seines Lebens einzupflanzen?
    »Bestimmungsort, bitte«, forderte der Aufzug ihn auf.
    Er zögerte, während er sich zu erinnern versuchte, wann sein Vater das letzte Mal »Ich liebe dich« gesagt hatte.
    »Vorstandstoilette«, kommandierte er.
    Ambrose betrachtete sein Spiegelbild und malte sich undeutlich aus, wie es wohl wäre, als reine Projektion seiner selbst zu erscheinen. Zum ersten Mal wurde ihm klar, wie einfach und natürlich es wäre zu lügen, wenn man niemals jemandem wirklich gegenüberstünde. Dass man sich mit der Zeit vermutlich daran gewöhnte, wenn man tagein, tagaus daran arbeitete, neue und bessere Welten zu erschaffen.
    »Halt!«, sagte er. »Lobby.«
    Er war Ambrose Truax, die Zukunft von UniCorp. Er trug erhebliche Verantwortung. Der Lauf seines Lebens war bis ins kleinste Detail vorgezeichnet. Was war nur in ihn gefahren, dass er derart nach spontanen Eingebungen handelte?
    In Windeseile ging er im Kopf alle Methoden durch, die sein Vater jederzeit dazu würde benutzen können, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen: Gebäudeüberwachung, Stimmerkennung, Sender und Rezeptoren in seinen Handflächenimplantaten. Er würde ab jetzt strikt darauf achten müssen, sich keinerlei Informationen anzeigen zu lassen, um jedes verräterische Signal zu vermeiden. Also würde er offline bleiben. Und es war ganz und gar ausgeschlossen, dass er in Unison einflimmerte. Der fehlende Austausch mit Freunden nagte bereits an seinem Hirn. Er kämpfte mit dem plötzlichen, mächtigen Verlangen, die Hände aufeinanderzupressen und wenigstens für einen flüchtigen Blick einzuflimmern.
    Sein Herz hämmerte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Gefühl von Schwerelosigkeit in seinem Bauch, während der Aufzug abwärtsraste. Was immer er herausfand, er würde schon bald zurückkommen müssen. Es waren noch Kalibrierungen nötig, seine geistige Gesundheit stand auf dem Spiel. Er würde sich für seinen Vater und seinen Bruder irgendeine Erklärung zurechtlegen müssen.
    Die Tür glitt auf. Mit gesenktem Blick durchquerte er die Lobby und versuchte, nicht an die Dutzende Sicherheitsscans zu denken, die er passierte. Zum Glück herrschte noch immer unübersichtliches Gedränge. Außerhalb des Gebäudes war der strahlende Morgen einem heißen und diesigen Nachmittag gewichen. Die schnittigen runden Dächer der Gelenkrahmenwagen, die dicht an dicht auf dem unteren Parkdeck standen, schienen in der heißen Luft zu vibrieren. Ambrose beschleunigte seine Schritte und widerstand dem Drang, durch einen kurzen Ruck seiner Hand den Limousinenservice zu rufen. Irgendwann würde er zwar für Geo-Wikis oder Transitkarten ohnehin das Signal anzapfen müssen, aber nicht jetzt, wo er der UniCorp-Zentrale noch so nah war. Was taten gewöhnliche Leute bloß, wenn sie auf die Schnelle einen fahrbaren Untersatz brauchten?
    Taxi
, dachte er und sah sich um. Er hatte noch nie in einem gesessen, kannte jedoch die gelben Autos, die wie Geier vor den Toren der Atmoscraper-Lobbys auf Fahrgäste warteten. Er war nervös, ihm war heiß. Sein Skinsuit sonderte ein Schweißkügelchen ab, das auf den Boden fiel und unter ein Auto kullerte. Direkt neben dem Wagen parkte ein schrottreifes Taxi, eins von den Modellen aus der U-Space-Ära, die noch über kein Schub-Leitsystem verfügten und daher die oberen Verkehrsadern nicht nutzen durften.

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