Carpe Somnium (German Edition)

ähnliches graues Gewand. Zu seinen Füßen saß ein mächtiger schwarzer Labrador, aus dessen Schädel etwas hervorspross, das aussah wie die gebogenen Hörner einer Bergziege.
    »Mein Bruder Ivor«, sagte Magnus. Der Ziegenhund und der Mann schauten flüchtig zu ihr herüber und nickten synchron.
    »Welcher von beiden?«, fragte Mistletoe.
    Magnus führte sie zu dem Mann. Der Ziegenhund rieb seine feuchte Nase an ihrer Hand. Wie schon die Tiere im Zoo war auch der Hund vollkommen still. Sie konnte ihn nicht mal hecheln hören.
    »Carpe somnium«
, sagte Magnus. »Update?«
    Ivors Augen zuckten kurz zu Mistletoe, dann richteten sie sich wieder auf seinen Bruder. Sein Blick war matt und eiskalt, ganz anders als Magnus’ boshaftes Funkeln. Sie konnte sich nicht entscheiden, welchen Ausdruck sie weniger mochte. Als Ivor sprach, klang seine Stimme gefühllos und distanziert, als berichtete er über etwas, das ihn zu Tode langweilte.
    »Die Erstlöschung der ID lief nicht ganz ohne … Schwierigkeiten.« Mit einem weiteren Augenzucken deutete er auf einen Eimer voll blutiger Lumpen. »Truax junior ist offenbar mit den allerneuesten UniCorp-Tags hartkodiert. Außerdem ist seine Level Sieben noch nicht lange her. Ich musste äußerst behutsam vorgehen.« Er drehte sich zu einer Reihe von Prä-Unison-Monitoren um und drückte auf mehreren Tastaturen gleichzeitig einige Tasten.
    Magnus wandte sich an Mistletoe. »Wir tun unser Bestes, damit wir hier unten auf der Höhe der Zeit bleiben, aber jeder UniCorp-Fortschritt wirft uns weiter zurück. Technologisch gesehen haben wir inzwischen einfach zu viel an Boden verloren. Vielleicht möchtest du dir die Ohren zuhalten.«
    »Die Ohren?«
    Magnus packte ihre Hände, legte sie ihr über die Ohren und hielt sie dort fest. Einen Moment lang wehrte Mistletoe sich, dann begann wieder das tiefe Grollen. Im dreißigsten Stock war es relativ schwach gewesen und im Zoo ziemlich laut, doch in diesem Raum, an der Quelle, war es schier unerträglich. Die Erschütterungen drangen durch Nase und Mund in ihren Körper. Sie sank auf die Knie, und Magnus ging vor ihr in die Hocke und presste seine Hände noch fester an ihren Kopf. Ihr Magen verknotete sich zu einem zittrigen Klumpen, ihre Kehle war wie zugeschnürt, als wickelte sich die ungeheure Gewalt des Klangs um ihren Hals. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie versuchte, gegen die rasch aufsteigende Übelkeit anzukämpfen, als schlagartig die Stille zurückkehrte. Magnus half ihr auf die Beine.
    Die beiden Brüder und der Hund waren von dem ohrenbetäubenden Grollen vollkommen unberührt geblieben. Ivor hämmerte auf seine Tasten. Der Hund leckte sich die Vorderpfoten.
    Mistletoe atmete ein paarmal tief durch, fühlte, wie das Geräusch in vibrierenden Wellen aus ihrem Körper wich.
    »Die Geißel ist dieser
Raum
?«, keuchte sie, und ihre Stimme klang fern und dumpf. »All die Leute haben bloß Angst vor dem Lärm?«
    »Ein netter Nebeneffekt«, erwiderte Ivor.
    »Wir betreiben hier unten – soweit wir wissen – das am höchsten entwickelte illegale Signal der gesamten subsphärischen Gemeinschaft«, erklärte Magnus. »Wenn wir es allzu sehr strapazieren, bringt es unsere Ausrüstung an ihre Grenzen, und die wiederum protestiert mit dieser kleinen … Beschwerde.«
    »Versuchen Sie’s mit ’nem Schuss Rapsöl und ’n paar kräftigen Fußtritten«, sagte sie und bemühte sich, ihre wirren Gedanken zu echten Fragen zu ordnen. »Also, wer sind Sie? Woher kennen Sie Jiri und Tante Dita? Und wo ist Ambrose?«
    Die Brüder tauschten einen kurzen Blick. Ivor zuckte verhalten die Schultern und verschwand hinter dem Drahtbaumstamm, der breiter war als Mistletoes Hütte oben auf dem Barackenhaufen. Der Ziegenhund tappte lautlos hinter ihm her.
    Abermals lächelte Magnus sie an, oder vielmehr, er versuchte es. Seit ihrer ersten Begegnung im Zoo war jedes folgende Lächeln ein bisschen weniger enthusiastisch gewesen. Inzwischen verzog sich sein Mund zu kaum mehr als einem harten, dünnen Strich. Im Stillen zählte Mistletoe die Schritte, die sie bei einem Blitzspurt hinüber zu Nelson zurücklegen müsste.
    »Wie viel weißt du über Unison?«, fragte er.
    »Genug«, log sie. In Wahrheit wusste sie wie die meisten Subsphären-Bewohner so gut wie gar nichts darüber.
    Magnus kräuselte seine buschigen weißen Brauen und schürzte die Lippen. Dann nickte er leicht und sagte: »Hmm. Nun, Ivor und ich gehörten zum ursprünglichen Entwickler-Team bei