Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
Vom Netzwerk:
daher entzog er uns den privilegierten UniCorp-Admin-Zugang. Kurz darauf wurde unser Arbeitsverhältnis beendet. Wir konnten uns ausrechnen, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis er uns die Kehlen durchschneiden lassen würde, also wurden wir zu Gespenstern. Der Grund für deine Existenz ist uns ein ebensolches Rätsel wie dir.« Er hob eine schlanke Hand und deutete hinter sich auf den Drahtstamm. »Allerdings nicht mehr lange.«
    Die Drähte an der Rückseite des Stamms waren wie Vorhänge zur Seite geschoben. Im Innern stand Ambrose, die Handflächen nach oben gekehrt und gehalten von kleinen Hängematten aus dünnen Silberfäden, die sich aufwärts im Stammzentrum verloren. Seine Hände waren bandagiert. Überall um ihn herum tanzten projizierte Informationen in der Luft. Ohne zu blinzeln, starrte Ambrose zwischen den pulsierenden, hektisch flackernden Farbblitzen hindurch auf die Quelle des Signals. Er hielt sich aus eigener Kraft aufrecht, doch seine Augen waren glasig und blicklos.
    Mistletoe drehte sich wieder zu Ivor um, der jetzt den gleichen schlagstockartigen Polizei-Taser in der Hand hielt, den Rothaar in den Straßen von Little Saigon eingesetzt hatte. In seinem Rücken stierte Magnus zu Boden.
    »Wir werden dich bitten müssen, ihm Gesellschaft zu leisten, Anna«, sagte Ivor.
    »Das ist verbloggt noch mal nicht mein Name!«, schrie sie.
    Ihr Schrei ging im tiefen Grollen der Geißel unter.

6

In Unison
    Neuer User.
    Ambrose konzentrierte sich auf die beiden Wörter, als wären sie eine lang gehegte Erinnerung. Heiß und süß loderte Vorfreude in ihm auf. Er liebte Unison, trotz allem. Er würde Unison immer lieben. Es war nicht langweilig, einen jungfräulichen Account von Grund auf neu aufzubauen; es war wundervoll. Das heftige Pochen in seinen Handflächen, wo Ivor die Rezeptor-Implantate rebootet hatte, verflachte zu einem leichten Schmerz.
    Das Grollen des Signalkerns hüllte ihn vollkommen ein.
    Er schmeckte die Batteriesäure, spürte die vertrauten Flimmer-Symptome, dann trat er hinaus in die Oberstadt, in einen strahlenden, perfekt kalibrierten Unison-Morgen. Vom subsphärischen ESC hatte man nie eine Bitmap erstellt, um es einzubinden, sodass Ambrose sich höchstwahrscheinlich direkt oberhalb des U-Bahn-Tunnel-Verstecks der beiden Brüder befand.
    Die ganze Stadt war still und menschenleer. Als neuer User hatte er keine Freunde. Nichtssagende, farblose Atmoscraper ragten über ihm auf. Er lauschte dem Widerhall seiner Schritte, während er an kahlen Schaufenstern und eleganten Firmenlobbys vorüberging. Die Luft roch schwach nach Reis. Er erinnerte sich daran, wie Kollege Garveys Programmier-Team sich wochenlang über die genauen Spezifikationen des Geruchs für neue User gestritten hatte.
    Eine Weile hing Ambrose seinen Gedanken nach – nie wieder würde Unison sich derart friedlich anfühlen –, dann griff er auf sein Profil zu. Der Spiegel erschien vor seinem geistigen Auge und teilte seine Wahrnehmung von Unison in zwei deutlich getrennte Bereiche: die leere Stadt um ihn herum mit allem, was er berühren und riechen konnte, und die Details seines neuen Accounts. Jetzt konnte er die Eigenschaften der neuen Persönlichkeit abfragen, die Ivor implantiert hatte, um zu verhindern, dass die UniCorp-Scans ihn aufspürten. Hoffentlich erwies die Tarnung sich als nützlich. Er drehte den Spiegel nach innen.
    Er war Adam Trevor, ein ehrgeiziger Popsänger auf der Suche nach dem großen Durchbruch. Unter anderem interessierte er sich für Musik des einundzwanzigsten Jahrhunderts, Möbeldesign und Äpfelpflücken in der New England Expansion.
    Na dann.
    Er entschied sich dafür, diese Information öffentlich zu machen, und schmeckte erneut einen Hauch von Batteriesäure. Überall um ihn herum begann die Stadt, sich zu verändern. Der schwache Reisgeruch wurde stärkehaltiger und irgendwie
dichter
, so als würde in der Nähe gekocht. Unter seinen Füßen kräuselte sich der Gehsteig. Knorrige Wurzeln kamen zum Vorschein und verdrängten die Pflastersteine. Dutzende kleiner Schösslinge sprossen aus dem Wurzelgeflecht empor und wuchsen ihm bis über die Knie. Weiße Knospen sprangen auf und erblühten strahlend, dann segelten die Blütenblätter auch schon zu Boden und bedeckten die letzten verbliebenen Pflastersteine, die noch nicht durch weiches Gras ersetzt worden waren.
    Ambrose spazierte zwischen den immer kräftiger werdenden Bäumen hindurch, während deren Äste sich hoch über seinem

Weitere Kostenlose Bücher