Carpe Somnium (German Edition)
Kopf verzweigten. Schlagartig zuckten Millionen grüner Blätter hervor und zitterten leicht in einer unmerklichen Brise. Das Geräusch – ein schwaches Rascheln – klang falsch. Zu blechern und scharf. Ambrose machte sich eine Notiz, um den Fehler an einen Kollegen in der Design-Abteilung weiterzuleiten, dann erst fiel ihm ein, dass er zu seinem Admin-Deck gar keinen Zugang mehr hatte. Er würde sämtliche System-Bugs ignorieren müssen, die ihm unterwegs begegneten. Aber womöglich war der raschelnde Laut ja speziell für Adam Trevors Ohren designt worden? Es würde sicher noch eine Weile dauern, bis er sich an diese neue ID gewöhnt hatte.
Er blieb stehen, schloss die Augen und atmete tief ein. Ein köstlicher, süßer, tröstlicher Duft hatte den Reisgeruch abgelöst. Unvermittelt riss er die Augen auf und fand sich in einem üppigen Obstgarten wieder. Zwischen dem dichten Blattwerk sah er hier und da Flecken von Grau und Blau aufblitzen, von Stadt und Himmel. Reife rote Äpfel hingen büschelweise, paarweise, einzeln von den Ästen der Bäume. Er streckte sich, packte einen der Einzelgänger und zog kräftig. Der Ast bog sich, dann schnellte er wie ein Katapult nach oben, als der Apfel sich löste. Ambrose nahm einen Bissen. Saft rann ihm übers Kinn. Der Geschmack war absolut perfekt, intensiver sogar als bei einem BetterApple. Es gab wahrhaftig nichts Besseres als fachmännisch kalibrierte Unison-Nahrung. Gierig mampfend bewegte er sich auf den Rand des Obstgartens zu und ließ den Apfelkern in einen Haufen aus weißen Blütenblättern fallen.
Dann trat er aus dem Schatten des letzten Baums hinaus auf den Gehsteig. Die Stadt war inzwischen bevölkert: Tausende möglicher Freunde – User mit ähnlichen Interessen, Wertvorstellungen und Gedankenmustern – erschienen als durchsichtige Geisterwesen in den Straßen. Bedächtig schlenderte er zwischen ihnen umher, denn die Anonymität der neuen ID war ungewohnt. Es gab keine Freundschafts-Massenanfragen, keine Scharen von App-Anbietern, die ihn wegen irgendwelcher Zulassungen bestürmten. Er beobachtete einen nebelhaften kleinen Jungen, der einem sogar noch jüngeren Freund über die Straße nachjagte. Im Zuge des UniCorp-Familienplans konnte selbst Kleinkindern das Log-in bewilligt werden. Ihre Zugriffsrechte waren streng limitiert, doch es lag im Interesse von UniCorp, die Nachfrage nach BetterLife so früh wie möglich zu wecken. Und bei standesbewussten Eltern saßen die Portemonnaies erfahrungsgemäß besonders locker.
Ein Feed, der denselben internen Spiegelraum besetzte wie sein Profil, begann zu blinken.
Ambrose Truax @ Neuer User Adam Trevor: Im Namen meiner Familie möchte ich Sie ganz herzlich willkommen heißen. Ein besseres Leben in Unison!
Vor lauter Schreck wäre Ambrose beinahe ausgeflimmert, ehe ihm einfiel, dass es Lens Idee gewesen war, jedem neuen User automatisch eine »persönliche« Nachricht zu senden. Eine kam von Len, eine weitere von Ambrose und eine dritte von ihrem Vater.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem er mit seinem Bruder über den Wortlaut der Willkommensnachricht gestritten hatte. Ein sinnloses, lächerliches Detail, und doch hatten sie sich deswegen stundenlang die Köpfe heißgeredet. Er schielte hinauf zu den geometrischen Flecken blauen Himmels, die sich hier und da zwischen den Atmoscrapern zeigten. Noch war kaum Zeit vergangen, seit er sich aus seinem alten Leben davongemacht hatte, und schon kam ihm das, was ihm darin wichtig gewesen war, völlig absurd vor. Dann plötzlich hatte er sein Schlafzimmer mit allen Einzelheiten wieder lebhaft vor Augen – den Wandschrank voller Holofashion, die topaktuelle Synth-Tafel, die herrliche Aussicht auf das Weideflächen-Gebäude nebenan –, und ein dumpfer Schmerz strahlte von seiner Brust aus bis hinunter in seine Beine.
Nichts von alldem würde er je wiedersehen.
Entschlossen stemmte er sich der Woge der Sehnsucht entgegen und rief sich ins Gedächtnis, dass Ambrose Truax’ Familie, Karriere und Besitz sich allesamt auf die große Lüge seiner Schöpfung gründeten und dass er hier in Unison war, um die Wahrheit herauszufinden. Magnus und Ivor hatten ihm die streng geheimen Übertragungen gezeigt. Er kannte jetzt das Geheimnis seines Vaters: Ebenso wie Mistletoe war Ambrose konstruiert worden, und zwar exakt nach den Anweisungen aus dem übertragenen Handbuch. Das Ganze war eine unwirkliche, seltsam entrückte Form von Wissen. Denn im Grunde
fühlte
er sich nicht
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