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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
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über die Schulter, als sie aus dem gigantischen Raum in kurze Finsternis traten, dann gelangten sie bereits in einen deutlich größeren Tunnel. Er war düster und feucht und müffelte nach Füßen. Wassertropfen fielen von rostzerfressenen Eisenverstrebungen über ihr und landeten mit hellem Klang in seichten Pfützen.
    »Achte auf deine Schritte, Kind«, sagte Magnus und deutete auf den Gitterrost aus stählernen Stangen, die sich in regelmäßigen Abständen unter ihren Füßen aneinanderreihten. »Wie viel weißt du über die Geschichte deiner Stadt?«
    »Ich weiß vom Sphärenteilungs-Gesetz und von den Aufständen. Aber
hier
unten bin ich nie gewesen. Bis gestern hab ich nicht mal den dreißigsten Stock betreten. Da gehen Leute nämlich rein und kommen nicht wieder raus.«
    Magnus’ Augen funkelten im diffusen Dämmerlicht. »Ist es das, was man sich erzählt?«
    Sie nickte. »Es heißt, dass die Geißel sie schnappt.«
    Vielleicht verfütterst du sie ja auch an deine Viecher
, dachte sie.
    »Ah, richtig. Die Geißel.« Magnus führte sie um eine der wuchtigen Plastahl-Stützen herum, die von oben her mitten durch den Tunnel verlief und sich dann in den Boden grub. Mistletoe folgte ihm nach links, wo weiches Licht lange Schatten auf die verfallenden gekachelten Wände warf. Unter dem bräunlichen Schmutzfilm konnte sie eine wiederkehrende Folge von Zahlen und Buchstaben ausmachen:
    LEX   59   LEX   59   LEX
    »Wir sind hier im alten U-Bahn-Netz von New York City«, erläuterte Magnus. »Sozusagen das Fundament von ESC , von den meisten vergessen, vom Rest ignoriert. Mein Bruder und ich leben schon eine ganze Weile hier unten.«
    Mistletoe hatte von dem alten Tunnelsystem gehört, doch es war allgemein bekannt, dass man die Ein- und Ausgänge bereits vor langer Zeit versiegelt hatte.
    »Der Weg hier herunter ist jedem versperrt, abgesehen von meinem Bruder und mir und ein paar anderen«, sagte er. Mistletoe fragte sich, ob Magnus wohl ihre Gedanken lesen konnte. Es hätte sie nicht überrascht.
    Während sie einer sanft geschwungenen Biegung folgten, wurde es in dem Tunnel stetig heller. In diesem Teil hatte jemand den Schmutz von den Wänden geschrubbt, und die Schienenstränge, die bis jetzt wie Furchen den Boden gesäumt hatten, machten einem ebenen Fliesenweg Platz. Direkt vor ihnen, in den Glanz eines riesigen Kronleuchters getaucht, flankierten zwei lederne Sofas eine Eisentür.
    »Willkommen in unsrem bescheidenen Heim«, sagte Magnus. »In der Vergangenheit waren auch dein Vormund Jiri und seine Schwester Dita unter unseren privilegierten Gästen.«
    Wie angewurzelt blieb Mistletoe stehen. Seine Worte schnürten ihr augenblicklich die Kehle zu. Sie schluckte mühsam und ergriff seinen Ärmel, zerrte fast an dem weichen Stoff. »Sie kennen Tante Dita? Ist sie am Leben? Ist sie hier?«
    Mit einem Kopfschütteln drückte Magnus die Eisentür auf. »Wir haben den Kontakt verloren«, sagte er finster. Mistletoe ließ seinen Ärmel los und folgte ihm in einen hell erleuchteten Raum, etwa halb so groß wie der stille Zoo und vollgepackt mit sperrigen Prä-Unison-Computern und schimmernden modernen Laborgerätschaften, die sie an ihren Traum erinnerten. An den Wänden reihte sich eine geöffnete Scannerröhre an die nächste, Kabelgewirr quoll wie Eingeweide aus ihnen hervor. Wenige Schritte entfernt lehnte Nelson an einem Stapel aus Plastikkästen, die ihr bekannt vorkamen.
Mikrowellen
, dachte sie. In Jiris Laden gab’s die zu Dutzenden. Sie überlegte, wie lang sie wohl brauchen würde, um zu Nelson hinüberzusprinten, einen Kickstart hinzulegen, die Auftriebe zum Laufen zu bringen und sich durch den Tunnel aus dem Staub zu machen. Sie hätte jetzt liebend gern selbst dieses Propheten-Flow-Dingsbums veranstaltet, von dem Ambrose erzählt hatte. Ihrer Schätzung nach könnte sie es bestenfalls bis zu der Eisentür schaffen, bevor Magnus sie erwischen würde, und die war sowieso hinter ihnen ins Schloss gefallen.
    In der Mitte des Raums ragte eine Art Baumstamm aus dicken Drähten von der Decke herab, der sich am Boden wie Wurzelwerk in alle Richtungen wild verzweigte. Die Wurzeldrähte schlängelten sich zu den Wänden hinüber, wo sie an die verschiedenartigen Maschinen angeschlossen waren. Unmittelbar neben dem Stamm stand so etwas wie eine deutlich ältere Version von Magnus. Sein Haar und seine Haut hatten einen fauligen, gelblichen Farbton. Er war nicht ganz so groß, trug jedoch ein

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