Carre, John le
Weißen von West-Berlin, und Wohnungen sind
am miesesten und am billigsten in der Nähe der Mauer. Smiley und Guillam waren
die einzigen Fremden. An einem langen Tisch saß eine ganze türkische Familie,
kaute Fladenbrot und trank Kaffee und Coca Cola. Die Kinder hatten
kahlgeschorene Schädel und die großen, verwunderten Augen von Flüchtlingen.
Islamitische Musik ertönte von einem alten Bandgerät. Farbige Plastikbänder
hingen von dem aus einer Hartfaserplatte geschnittenen islamitischen Türbogen.
Guillam wandte den Blick wieder dem
Fenster und der Brücke zu. Zuerst kamen die Pfeiler der Hochbahn, dann das alte
Backsteinhaus, das von Sam Collins diskret als Beobachtungszentrale requiriert
worden war. Seine Leute hatten in den letzten beiden Tagen heimlich darin
Stellung bezogen. Dann kam der Lichthof von Bogenlampen und dahinter eine
Absperrung, ein MG-Stand und schließlich die Brücke. Die Brücke war nur für
Fußgänger, und der einzige Weg darüber bestand aus einem stahlumzäunten,
laufgitterartigen Korridor, der manchmal einer, manchmal drei Personen
Durchgang gewährte. Gelegentlich kam jemand mit beflissen harmloser Miene und
steten Schritts herüber, bemüht, den Wachturm nicht zu beunruhigen, und trat
dann in den Lichtkreis der Bogenlampen, wenn er den Westen erreicht hatte. Bei
Tageslicht war der Laufgang grau, nachts aus irgendeinem Grund gelb und seltsam
leuchtend. Der MG-Stand befand sich einen oder zwei Meter innerhalb der Grenze,
sein Dach überragte nur knapp die Absperrung. Beherrscht wurde das Ganze von
dem Turm, einem eisenschwarzen, rechteckigen Gebilde in der Mitte der Brücke.
Selbst der Schnee hielt sich von ihm fern. Er lag auf den Betonzähnen, die
jeglichen Autoverkehr verhinderten, er wirbelte um die Lampen und den MG-Stand
und ließ sich malerisch auf das Kopfsteinpflaster nieder; doch der Wachturm
war tabu, als ob nicht einmal der Schnee sich ihm aus eigenem freien Willen
nähern wollte. Kurz vor den Lampen verengte sich der Laufgang zu einem letzten
Gatter und einem Pferch. Das Gatter, sagte Toby, konnte im nu vom Inneren des
MG-Stands aus automatisch geschlossen werden.
Es war zehn Uhr dreißig, doch es
hätte ebensogut drei Uhr morgens sein können, denn an der Grenze entlang geht
Berlin mit Einbruch der Dunkelheit schlafen. Im Landesinneren mag die
Inselstadt plaudern und trinken und huren und ihr Geld verpulvern; die
Leuchtreklamen und die wiederaufgebauten Kirchen und Konferenzhallen mögen
glitzern wie ein Rummelplatz: Auf den dunklen Grenzstreifen schweigt das Leben
ab sieben Uhr abends. Dicht neben den Bogenlampen stand ein Christbaum, aber
nur die obere Hälfte war mit Lichtern versehen, denn nur die obere Hälfte konnte
man vom anderen Ufer aus sehen. Es ist ein Ort, der keinen Kompromiß kennt,
dachte Guillam, keinen dritten Weg. Welche Vorbehalte er auch gelegentlich
gegenüber der westlichen Freiheit gehegt haben mochte, an dieser Grenze wurden
sie, wie die meisten anderen Dinge, null und nichtig. »George«, sagte Guillam
leise und warf Smiley einen fragenden Blick zu.
Ein Arbeiter war in den Lichtkreis
getreten. Er schien förmlich hineinzuwachsen, wie alle, wenn sie aus dem
Laufgang kamen: Als sei eine Last von ihren Schultern gefallen. Er trug eine
kleine Mappe und etwas, das wie eine Eisenbahnerlampe aussah. Er war von
schmalem Wuchs. Doch Smiley war, wenn er den Mann überhaupt bemerkt hatte,
wieder zu den Revers seines braunen Mantels und zu seinen einsamen, in der
Ferne weilenden Gedanken zurückgekehrt. »Wenn er kommt, kommt er pünktlich«,
hatte er gesagt. Warum müssen wir dann zwei Stunden früher hier sein? war
Guillam versucht zu fragen. Warum sitzen wir hier wie zwei Fremde, trinken aus
winzigen Tassen süßen Kaffee, der vom Dampf der elenden türkischen Küche
durchtränkt ist und reden nichtssagendes Zeugs? Aber er kannte die Antwort
bereits. Weil wir dazu verpflichtet sind, würde Smiley gesagt haben,
wenn Smiley in gesprächiger Stimmung gewesen wäre. Weil wir verpflichtet sind,
uns zu sorgen und zu warten, verpflichtet, die Bemühungen eines Mannes zu
honorieren, der dem System entrinnen will, das er mitgeholfen hat zu schaffen.
Denn solange er versucht, uns zu erreichen, sind wir seine Freunde. Niemand
sonst ist auf seiner Seite.
Er kommt, dachte Guillam. Er kommt
nicht. Er kommt vielleicht. Wenn das kein Gebet ist, dachte er, was ist dann
eins?
»Noch einen Kaffee, George?«
»Nein, danke Peter; nein, ich
glaube nicht. Nein.«
»Es
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