Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
unerwarteter Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kaltstellung eines verdienten Beamten oder ein Diebstahl bei einer Vereinskassa oder ein Radschaden an der Postkutsche oder eine kleine Feuersbrunst beim reichen Bauern Soundso oder die skandalöse Heirat der Gräfin Ypsilon mit ihrem Stallburschen. So unverbrüchlich der Steuerzahler, das Familienhaupt, der Kollege seinen Pflichten nachkam, der Quandt an sich hatte etwas von einem Revolutionär und war immer auf dem Posten, um der Weltregierung auf die Finger zu schauen, und stets besorgt, daß keinem mehr Ehre geschah, als er nach genauer Bilanz über seine Verdienste und Mängel, seine Vorzüge und Laster füglich beanspruchen durfte. Der öffentliche Quandt schien zufrieden mit seinem Los, der geheime fand sich allerorten und zu jeder Zeitzurückgesetzt, beleidigt, vor den Kopf gestoßen und in seinen vornehmsten Rechten gekränkt.
Nun sollte man denken, mit zwei so verschieden gesinnten Kostgängern unter einem Dach sei schwer zu wirtschaften. Nichtsdestoweniger kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander aus. Freilich, der Neid ist ein boshaftes Tier; er durchlöcherte manchmal die Scheidewand zwischen den zwei Seelen, und wie oft der stärkste Damm nicht genügt, um eine verheerende Überschwemmung zu verhindern, so brach eben dieser Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und wohlbestellten Gefilde des Gottes- und Menschenfreundes Quandt.
Und was gab es doch nicht alles in der Welt, worüber das tückische Untier sich gefräßig hermachen konnte! Da hatte einer einen Orden bekommen, der das ganze Leben lang hinterm Ofen hockte und Maulaffen feilhielt; dort hatte ein andrer zehntausend Taler geerbt, der schon ohnehin die Woche zweimal Pasteten aß und Moselwein trank; da wurde ein Name lobend in der Zeitung erwähnt, ohne daß man erforschen konnte, ob ihm eine solche Auszeichnung von Rechtswegen zukam, dort hatte ein Ichweißnichtwer eine Entdeckung gemacht, auf die man, hätte man sich zufällig mit dem Gegenstand beschäftigt, leichterdings auch hätte verfallen können. Warum denn der? Warum nicht ich? murrte dann der heimlich aufrührerische Quandt. Es war ein beständiger und unsichtbarer Zweikampf mit dem Schicksal unter der Parole: Warum der andre, warum nicht ich?
Vielleicht litt der gute Quandt unter seiner Abstammung; sein Vater war Pastor gewesen, mütterlicherseits kam er von Bauern her. Erbesaß viel vom Bauern und vom Pastor: sein sehr irdisches Streben war rundherum mit Theologie behangen. Dabei war der Bauer dem Pastor beständig im Wege, denn wo hätte man je gehört, daß ein auf Religion und Friedfertigkeit gestimmtes Gemüt rachsüchtig, mißgünstig und ehrgeizig gewesen wäre? Die Wahrheit liebte Quandt über alles; er sagte es, er beteuerte es und es war auch so. Nichts war ihm offenbar genug; nirgends stimmte die Rechnung; überall hatten die Menschen eine falsche Addition gemacht oder den Kasus verwechselt. Er sagte und beteuerte, daß er niemals in seinem Leben gelogen hatte. Ein bewundernswerter Fall; und wirklich stand es fest und war nachzuweisen, daß er mit dem einzigen Busenfreund, den er je besessen, einem Schulamtskandidaten in Tauberbischofsheim, deshalb für immer gebrochen hatte, weil er ihm auf eine Lüge gekommen war.
Wie ratlos mußte nun Caspar einer so ernsten Wachsamkeit, einer solchen Vereinigung von seltenen und vorbildlichen Eigenschaften, wie sie der bessere Teil des Lehrers bot, gegenüberstehen. Wir, der Leser und ich, haben darin leichtes Spiel, uns kann man nicht betrügen, uns sind die Kleiderfalten offen und die Haut über dem Herzen ist uns durchsichtig; wir weilen auf einer höheren Warte, wir sind Seher und Humoristen; wir verfolgen Herrn Quandt, wenn er in einen Krämerladen tritt, mit höflicher Gemessenheit ein halbes Pfund Käse verlangt und dabei mit unruhig-eifrigen Augen die Einkäufe seiner Nebenmenschen, gleichviel ob es Köchinnen oder Generale sind, in seinem Innern notiert; wir hören ihn, wenn er mit dem Oberinspektor Kakelberg sprichtund sich mit Schmerz über die zunehmende Verlotterung der Schuljugend beklagt; wir sehen ihn jeden Sonntagmorgen gebürstet, frisiert, gewaschen zum Gottesdienst eilen und mit Bescheidenheit sein Gebetbüchlein aufschlagen; wir wissen, daß er respektvoll gegen Höhere und unnachsichtig gegen Geringere ist, denn sein Pflichtbewußtsein nach beiden Seiten unterliegt keinem Zweifel. Aber wir wissen auch, daß er jeden Abend vor dem
Weitere Kostenlose Bücher