Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
ruheloses Herumwälzen verwandelte. Plötzlich erwachte er mit einem tiefen Seufzer und starrte brennenden Auges in die Finsternis. An den Fensterscheiben war ein Kribbeln und Tasten, das von den anprallenden Schneeflocken herrührte und dem leisen Pochen einer Hand ähnlich war. Aus dem Nebenraum hörte er die gleichmäßigen Atemzüge des schlafenden Stanhope; höchst befremdlich klang dies Atmen des andern Menschen in der Nacht, wie ein drohendes Geflüster: hüte dich, hüte dich.
Er ertrug es nicht mehr im Bett. Es war, als sei ihm der Körper mit tausend Fäden umschnürt, und als er aufstand, geschah es nur, weil er sich vergewissern wollte, ob er sich noch frei bewegen könne. Er schlug die Wolldecke um die Schultern und trat barfüßig ans Fenster.
Das ganze große All war angefüllt mit den gesprochenen Worten, die wie rote Beeren in der Dunkelheit hingen. Überall Gefahr; bloß zudenken, war schon Gefahr; jeder Anhauch aus fremdem Munde Gefahr.
Er fing an zu zittern. Die Knie saßen loser in den Gelenken, es war ihm so leicht und schwer zugleich; sein Nachdenken hatte eine andre, nähere Folge, auch alle Gegenstände waren näher, und das Ganze der Erde und des Himmels, Wolken, Wind und Nacht hatten etwas eingebüßt, etwas unbegreiflich Flüchtiges und Wandelbares. Alles ist nun so wunderlich wahr. Caspar hält die Scherben eines kostbaren Gefäßes in der Hand, und seine Phantasie will nicht einmal die schöne Form, wie sie gewesen, zurückgestalten.
Unten auf der Gasse geht lautlos der Nachtwächter. Der zuckende Schein seiner Laterne vergoldet den Schnee. Caspar folgt ihm mit den Blicken, denn es ist, als ob der Mann in irgendeinem unerklärlichen Zusammenhang mit seinem Schicksal stehe. Sie wandeln miteinander über ein verschneites Feld, jener fragt Caspar, ob ihn friere, und wirft ihm einen Teil seines Mantels um die Schultern, so daß sie beide unter derselben Hülle gehen. Auf einmal gewahrt Caspar, daß es kein Männergesicht ist, das sich so mild erbarmend zu ihm kehrt, sondern das schöne, traurige Gesicht einer Frau. Es enthalten diese Trauer und diese Schönheit etwas Redendes, und daß sie zusammen unter demselben Mantel wandern, hat den allertiefsten Sinn, etwas, das mit Qual und Freuden eines ist und vom Anfang der Dinge stammt.
Da tönte das ungeheure Wort des Grafen neuschallend in die Nacht: »In diesem Zeichen hat dich deine Mutter geboren.«
Dich geboren! Welcher Laut! Was wardarin beschlossen! Caspar legte beide Hände vors Gesicht; ihm schwindelte.
Da hörte er ein Geräusch von Schritten. Jäh drehte er sich um, es war ein Emportauchen aus finsterer Flut; der Graf stand im Schlafrock vor ihm. Wahrscheinlich hatte Caspars nächtliches Wachsein ihn aufgeweckt, er hatte einen leisen Schlummer.
»Was treibst du?« fragte Stanhope mürrisch.
Caspar machte einen Schritt auf ihn zu und sagte dringlich, atemlos, drohend und flehend: »Führ mich zu ihr, Heinrich! Einmal laß mich die Mutter sehen, nur einmal, nur sehen; nicht jetzt, später vielleicht. Einmal, nur einmal! Nur sehen! Nur einmal!«
Stanhope wich zurück. Dieser Aufschrei hatte etwas Überirdisches. »Geduld,« murmelte er, »Geduld.«
»Geduld? Wie lange noch? Hab’ schon lange Geduld.«
»Ich verspreche dir –«
»Du versprichst es, aber wie soll ich glauben?«
»Setzen wir die Frist eines Jahres fest.«
»Ein Jahr ist lang.«
»Lang und kurz. Ein kleines, kurzes Jahr und dann –«
»Dann –?«
»Dann will ich wiederkommen –«
»Und mich holen?«
»Dich holen.«
»Gelobst du das?« Caspar heftete einen suchenden und wie ein mattes Flämmchen erlöschenden Blick auf den Grafen. Da der Widerschein des Schnees die Nacht erhellte, konnte jeder des andern Züge deutlich unterscheiden.
»Ich gelob’ es.«
»Du gelobst es, aber wie kann ich’s wissen?«
Stanhope geriet in eine sonderbare Bedrängnis; dies Gegenüberstehen zu solcher Stunde, die immer herrischer, stürmischer werdenden Fragen des Jünglings wirkten wie Gespensterschauer auf seine Einbildungskraft. »Reiß mich aus deinem Herzen aus, wenn es nicht geschieht,« murmelte er dumpf; er mußte in diesem Augenblick lebhaft des Mannes gedenken, der vom Teufel lebendigen Leibes in den feuerspeienden Vesuv geschleudert wurde.
Und Caspar darauf: »Was kann mir das nützen? Sag mir den Namen, sag mir ihren Namen, sag mir meinen Namen.«
»Nein! niemals! niemals! Aber glaube mir nur. Es wacht ein Gott über dir, Caspar. Es kann dir nichts
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