Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
auf irgendwelche Art belauschen und sehen könne, was er treibe. Der Birnbaum an der Mauer war wie geschaffen dazu. Quandt war geschickt und kräftig, ohne Mühe erklomm er die Mauer und dann einen breiten Ast, von wo er Caspars Zimmer überschauen konnte. Was er sah, genügte. Nach kurzer Weile kam er aufgeregt herab, raunte seiner Frau zu: »Ich hab’ ihn erwischt, Jette,« und stürzte ins Haus und die Stiege empor.
Da sich auf sein Klopfen drinnen nichts rührte, geriet er in Wut. Er fing an, mit den Fäusten, sodann mit den Absätzen an die Tür zu trommeln, und als auch dies nichts half, beschloß der beklagenswerte Mann in seiner Raserei, ein Beil zu holen und die Türe einzuschlagen. Vorher lief er noch geschwind in den Hof zurück und sah, daß es in Caspars Zimmer indessen finster geworden war, ein Umstand, der seinen Zorn nur noch steigerte.
Von dem Lärm waren die Kinder und die Magd aufgewacht; die Lehrerin trat Quandt jammernd entgegen, als er mit der Holzhacke aus der Küche rannte. Er stieß sie weg, schäumte: »Ich will’s ihm schon zeigen,« und stürzte wieder hinauf.
Nach dem ersten Schlag mit dem Beil öffnete sich die Tür, und Caspar trat im Hemd auf die Schwelle. Der Anblick der ruhigen Gestalt hatte etwas so Unerwartetes und Ernüchterndes für den Lehrer, daß er förmlich znsammenklappte, nichts zu sagen und zu tun wußte und nur sonderbar mit den Zähnen knirschte. »Machen Sie Licht,« murmelte er nach einem langen Stillschweigen. Doch schon kam die Frau mit einem Licht, leise heulend, die Stiege herauf. Caspar erblickte das Beil im gesenkten Arm des Lehrers und fing an, heftig zu zittern. Bei diesem Zeichen von Furcht verlor Quandt vollends die Haltung. Er schämte sich, und tief aufseufzend sagte er: »Hauser, Sie bereiten mir großen Kummer.« Damit drehte er sich um und ging langsam hinunter.
Caspar schlief erst ein, als der Tag dämmerte. Beim Frühstück, vor der gewohnten Unterrichtsstunde, erfuhr er, daß Quandt schon ausgegangensei. Es wurde Mittag, und während des Essens war der Lehrer vollkommen stumm; mit dem letzten Bissen erhob er sich und sagte. »Um fünf Uhr seien Sie auf Ihrem Zimmer, Hauser. Der Polizeileutnant will mit Ihnen sprechen.«
Caspar legte sich oben aufs Kanapee. Es war ein heißer Augusttag, Gewitterwolken lagerten am Himmel, am offenen Fenster flogen Schwalben ängstlich zwitschernd vorüber, die schwül erhitzte Luft surrte und sang im engen Gemach. Noch müde von der Nacht, entschlummerte Caspar alsbald, und erst ein heftiges Rütteln an seiner Schulter weckte ihn. Hickel und der Lehrer standen neben ihm, er setzte sich auf, rieb die Augen und sah die beiden Männer schweigend an. Hickel knöpfte mit einer amtlichen Gebärde seinen Uniformrock zu und sagte: »Ich fordere Sie hiermit auf, Hauser, mir Ihr Tagebuch abzuliefern.«
Caspar erhob sich tiefatmend und antwortete mit einer mehr von innerem Zwang als Mut eingegebenen Festigkeit: »Herr Polizeileutnant, ich werde Ihnen mein Tagebuch nicht geben.«
Quandt schlug die Hände zusammen und rief klagend: »Hauser! Hauser! Sie treiben Ihre unkindliche Widersetzlichkeit zu weit.«
Caspar schaute sich verzweifelt um und erwiderte zuckenden Mundes: »Ja, bin ich denn ein Eigentum von einem andern? Bin ich denn wie ein Tier? Was wollen Sie denn noch? Ich hab’ ja schon gesagt, daß ich das Buch verbrannt habe!«
»Wollen Sie etwa leugnen, Hauser, daß Sie heute nacht bei der Kerze geschrieben haben?« fragte Quandt dringlich. »Briefe haben Sie doch nicht zu schreiben gehabt und mit den Exerzitien waren Sie fertig.«
Caspar schwieg. Er wußte nicht ein noch aus.
»Ein guter Mensch hat überhaupt die Einsicht in sein Tagebuch nicht zu scheuen,« fuhr Quandt fort, »im Gegenteil, sie muß ihm erwünscht sein, da doch seine Unbescholtenheit damit bezeugt wird. Sie am allerwenigsten, lieber Hauser, haben Grund, ein geheimes Tagebuch zu führen.«
»Wie lange werden Sie uns noch warten lassen?« fragte Hickel mit höflicher Kälte.
»Da will ich doch lieber sterben, als daß ich das alles aushalten soll!« rief Caspar und hob den Arm, um sein Gesicht darin zu verbergen.
»Nun, nun,« sagte Quandt beunruhigt, »wir meinen es ja gut mit Ihnen, auch der Herr Polizeileutnant will nur Ihr Bestes.«
»Freilich,« bestätigte Hickel trocken; »übrigens kann ich Ihnen sagen, daß das Sterben zurzeit nicht der beste Einfall von Ihnen wäre. Da könnte man unter Umständen auf Ihrem Grabstein lesen: Hier
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