Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Macht und den Hilfsmitteln der Feinde, mit denen er sich in ungleichen Kampf eingelassen, wurde allmählich ungeheuer, und wenn auch sein Vorhaben nicht die geringste Beeinträchtigung erfuhr und er nicht für die Dauer eines Augenblicks ins Schwanken geriet, nahm doch eine verdüsternde Unruhe von ihm Besitz. Seit jenem nächtlichen Einbruch, dessen Anstifter aller aufgewandten Mühe zum Trotz unentdeckt geblieben waren, entbehrte er des dauernden Schlafs. Er erhob sich bisweilen aus dem Bett, wanderte mit dem Licht durch die Zimmer, über Treppen und Flur, rüttelte an den Fenstern, probierte die Festigkeit der Schlösser und erschrak nicht selten vor seinem eignen Schatten. Es war für seine Kinder ein erschütterndes Schauspiel, diesen Mann der Leidenschaft und des eingefleischten Mutes in dergleichen Gespensterwesen verstrickt zu sehen. Einstmals am frühen Morgen fand man an der äußeren Seite des Haustors folgende mit Kreide angeschriebenen Verse:
Anselm, Ritter von Feuerbach! Lösch ’s Feuer unter deinem Dach! Laß den falschen Freund nimmer ein! Zieh den Degen und hau drein, Sonst wird’s um dich geschehen sein.
An einem Abend zu Ende Oktober kam Quandt und begehrte den Präsidenten zu sprechen. Feuerbach ließ ihn eintreten und beobachtete sofort in seinem Benehmen etwas Verlegenes und Bestürztes, doch zeigte der Lehrer nicht die gewöhnliche Umständlichkeit, sondern rückte schnell mit seinem Anliegen heraus. Er berichtete, Caspar habe vorgestern einen Brief des Grafen erhalten und seitdem habe er sich ganz verändert; ob Seine Exzellenz nicht eine Stunde erübrigen könne, um mit dem Menschen zu reden, er selbst bringe kein Wort aus ihm heraus.
Der Präsident fragte, worin die Veränderung bestehe.
»Es ist, als wäre er taubstumm geworden,« versetzte Quandt. »Bei Tisch läßt er die Speisen unberührt, beim Unterricht ist er äußerst unaufmerksam, ja geistesabwesend, die Aufgaben macht er nicht mehr, auf Fragen antwortet er nicht, schleicht herum wie ein Todkranker und starrt in die Luft. Gestern nachts hab’ ich und meine Frau ihn belauscht und wir haben zugehört, wie er erst eine ganze Weile vor sich hingewimmert, dann auf einmal hat er einen gräßlichen Schrei ausgestoßen.«
»Wissen Sie vielleicht, was in dem Brief des Grafen gestanden hat?« forschte der Präsident.
»O ja, das weiß ich wohl,« entgegnete der Lehrer harmlos; »es ist meine Gepflogenheit, alle Briefe, die er erhält, vorher zu öffnen.«
Feuerbach blickte jäh empor und sah den Lehrer mit finsterer Neugier an. »Nun, und?« fragte er.
»Ich könnte den Inhalt des Schreibens durchaus nicht mit einer solchen Wirkung zusammenreimen,« erwiderte Quandt bedächtig.
Der Präsident stampfte ungeduldig mit dem Fuß. »Gut, gut,« rief er barsch, »aber was stand denn drin, da Sie es doch einmal wissen?«
Quandt erschrak. »Es stand drin, der Graf könne in diesem Jahr nicht mehr nach Ansbach kommen, unerwartete Zwischenfälle nötigten ihn, diesen Plan ins Unbestimmte zu verschieben. Nun ist mir freilich bekannt, daß Hauser mit der Herkunft des Lords stark gerechnet hat, er sprach sogar immer von einem festen Termin und hielt es für einen Frevel, wenn man ihm das ausreden wollte; er schien es geradezu für eine Pflicht des Grafen zu erachten, denn in seinem kindischen Kopf glaubt er noch fix daran, daß ihn der Graf mit nach England auf seine Schlösser nehmen werde, und er ahnt gar nicht, daß der Herr Graf schon längst sein Herz von ihm abgewandt hat –«
»Woher wissen Sie das, Mann?« brauste der Präsident auf und erhob sich mit solchem Ungestüm, daß der Stuhl hinter ihm umstürzte.
»Eure Exzellenz verzeihen,« stotterte Quandt furchtsam, »aber das ist doch sonnenklar.« Er ging hin, stellte den Stuhl mit einer höflichen Grimasse wieder auf, und während der Präsident mit seinen steifen, kurzen Schritten auf und ab wanderte, sagte er schüchtern: »Trotz allem ist mir die Wirkung dieser in den urbansten Formen gehaltenen Absage unerklärlich und besorgniserregend; es muß da etwas dahinter stecken, und Eure Exzellenz sind vielleicht imstande, es herauszubringen.«
»Ich werde der Sache nachgehen,« schnitt Feuerbach das Gespräch kurz ab. Quandt machte seinen Bückling und entfernte sich. Er ging nichtheimwärts, sondern wandte sich gegen die Herrieder Vorstadt, da er seine Frau vom Haus ihrer Mutter abholen wollte. Es war ein heftiger Sturm, Blätter und Zweige wirbelten durch die Luft, Quandts
Weitere Kostenlose Bücher