Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
Vom Netzwerk:
kümmern. So still war es auch damals um Sie geworden, bevor der angebliche Mordanfall im Hause des Professors Daumer sich ereignet hat. Kein Mensch unter all den vielen Tausenden, welche die Stadt Nürnberg bewohnen, hat zur kritischen Zeit oder später eine Person beobachtet, die auch nur im entferntesten im Zusammenhang mit einer solchen Greueltat gedacht werden konnte. Ihre Freunde glaubten trotzdem an den vermummten Unhold, so wie sie an den phantastischen Kerkermeister glaubten, der Sie das Lesen und Schreiben gelehrt haben soll. Nichtsdestoweniger hat Sie der Professor Daumer alsbald vor die Tür gesetzt. Er wird wohl gewußt haben, warum. Und heute steht Ihre Sache so, daß Sie sich entschließen müssen. Ihre mächtigsten Gönner, der Staatsrat, der Lord Stanhope, die Frau Behold, haben das Zeitliche verlassen. Erkennen Sie darin nicht einen Wink des Himmels? Es hat ja nun keinen Zweck mehr für Sie, die Fiktion aufrechtzuerhalten. Sie sind doch jetzt ein Mann, Sie wollen doch ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden. Sprechen Sie zu mir, Hauser, eröffnen Sie sich! Sprechen Sie mit Ihrem wahren Mund, aus wahrem Herzen!«
    »Ja, was soll ich denn sprechen?« fragte Caspar dumpf und langsam, indes seine Gestalt verfiel wie die eines Greises und auch in seinem Gesicht lauter greisenhafte Falten entstanden.
    Der Lehrer trat zu ihm und ergriff seineschwere steinkalte Hand. »Die Wahrheit sollen Sie sprechen!« rief er beschwörend. »Ach, Hauser, es ist ja ein Jammer, Sie anzuschauen, wie das schlechte Gewissen gespensterhaft aus jedem Ihrer Blicke lugt. Ihr Gemüt ist bedrückt. Auf! die gequälte Brust, Hauser! Lassen Sie endlich einmal die Sonne hineinscheinen! Mut, Mut, Vertrauen! Die Wahrheit! Die Wahrheit!« Er packte Caspar am Kragen des Rocks, als wolle er ihm mit seinen Händen das Geheimnis entreißen.
    Was denn? Was denn? dachte Caspar, und sein Blick flatterte wehevoll umher.
    »Ich will Ihnen entgegenkommen,« sagte Quandt. »Knüpfen wir an ein Greifbares an. Als Sie nach Nürnberg kamen, zeigten Sie einen Brief. Sie trugen in den Taschen Ihres verschnittenen Fracks mehrere Bücher, es waren alte Mönchsschriften, darunter eine mit dem Titel: Kunst, die verlorenen Jahre einzubringen. Wer hat den Brief geschrieben? Wer hat Ihnen die Bücher gegeben?«
    »Wer? Der, bei dem ich gewesen.«
    »Das ist ja klar,« versetzte Quandt mit erregtem Lächeln, »aber Sie sollen mir sagen, wie der hieß, bei dem Sie gewesen. Sie werden mich doch nicht für so närrisch halten, daß ich glaube, Sie wüßten das nicht. Ohne Zweifel war es doch Ihr Vater oder Ihr Oheim oder ein Bruder oder ein Spielgenosse, gleichviel. Hauser! Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich vor Gottes Angesicht. Und Gott würde fragen: Woher kommst du? Wo ist deine Heimat, der Ort, wo du geboren bist? Wer hat dir einen falschen Namen angedichtet und wie heißt du mit dem Namen, den du in der Wiege empfangenhast? Wer hat dich unterrichtet und angelernt, die Menschen zu täuschen? Was würden Sie in Ihrer Seelennot antworten, was antworten, wenn der erhabene Gott Sie zur Rechtfertigung aufforderte, zur Sühnung des verübten Trugs?«
    Caspar starrte den Lehrer atemlos an. Das Blut stockte ihm. Die ganze Welt verkehrte sich ihm.
    »Was würden Sie antworten?« wiederholte Quandt mit einem Ton zwischen Angst und Hoffnung; ihm schien es, als sei er nahe daran, die verschlossene Pforte zu sprengen.
    Caspar stand schwerfällig auf und sagte mit zuckendem Mund: »Ich würde antworten: Du bist kein Gott, wenn du solches von mir verlangst.«
    Quandt prallte zurück und schlug die Hände zusammen. »Lästerer!« schrie er mit durchdringender Stimme. Dann streckte er den rechten Arm aus und rief: »Hebe dich weg, du Unzucht, du verfluchter Lügengeist! Hinaus mit dir, Infamer! Besudle meine Luft nicht länger!«
    Caspar kehrte sich um, und während er nach der Türklinke tastete, krächzte hinter ihm die Wanduhr zehn Schläge in das Sturmgebrodel.
    Seufzend, schlaflos wälzte sich Quandt die ganze Nacht auf den Kissen. Seine Heftigkeit mochte ihn gereuen, denn im Lauf des folgenden Tages suchte er sich Caspar wieder zu nähern. Aber Caspar blieb kalt und in sich gekehrt. Abends brachte Quandt das Gespräch auf den Regierungsrat Fließen; er sagte, daß er sich erkundigt habe, und rief Caspar scherzend zu: »Achtzehn Enkel, Hauser, achtzehn sind es! Na, sehen Sie, daß ich recht gehabt habe?«
    Caspar schwieg.
    »Aber Hauser, Sie

Weitere Kostenlose Bücher