Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
ihn darin nach Kräften. Es war umsonst. Caspar faltete flehentlich die Hände und bat, Daumer möge mit ihm zu Herrn von Wessenig gehen. Dessen weigerte sich Daumer entschieden, doch als Caspars Aufregung wuchs, erklärte er sich bereit, allein zu Herrn von Wessenig zu gehen. Er aß schnell seinen Teller leer, nahm Hut und Mantel und ging.
Caspar lief zum Fenster und sah ihm nach. Er wollte sich nicht zu Tisch begeben, ehe Daumer wieder da war. Er zerknüllte das Taschentuch in der Hand, rasch atmend starrte er gegen den Himmel und dachte: Wenn ich dich liebhaben soll, Sonne, mach, daß es wahr ist. So wurde es ein Uhr und Daumer kam zurück. Er hatte den Rittmeister zur Rede gestellt und eine heftige Auseinandersetzung mit ihm gehabt. Herr von Wessenig hatte die Sache zuerst humoristisch genommen, damit lief er aber bei Daumer übel ab, dem ohnehin das hämische Gerede, das ihm täglich zugetragen wurde, Verdruß genug erregte. Erst gestern hatte man ihm erzählt, auf einer Assemblee bei der Magistratsrätin Behold habe sich ein angesehener Aristokrat über ihn lustig gemacht als über den Meister somnambuler und magnetischer Geheimkunst, der Caspar Hauser feierlich den Zaubermantel unter die Füße breite, aber statt in den Äther zu entschweben, wie jedermann erwarte, bleibe der gute Caspar gemächlich sitzen und lasse sich ausfüttern.
Solches nagte an Daumer und er hatte es dem Rittmeister ins Gesicht gesagt, daß ihn dasscheele Geschwätz der nichtstuenden eleganten Welt gleichgültig lasse. »Bin ich auch eher auf Hilfe und Zustimmung als auf Verteidigung und Abwehr gefaßt gewesen, so weiß ich doch genau, daß das erstarrte Herz von Ihnen und Ihresgleichen nicht um einen Pulsschlag gefühlvoller schlagen wird,« rief er aus. »Das aber kann ich fordern, daß man den Jüngling, der unter meinem Schutz und dem des Herrn Staatsrats steht, wenigstens mit böswilligen Scherzen verschont.«
Sprach’s und ging. Einen Freund ließ er nicht zurück.
Zu Hause ankommend und Caspars stummes Drängen wahrnehmend, sagte er mit mühsamer Milde: »Er hat dich zum Narren gehabt, Caspar. Es ist natürlich kein Wort wahr. Solchen Leuten mußt du auch nicht glauben.«
»O!« machte Caspar voll Schmerz. Dann war er still.
Erst als Daumer sich nach der Mittagsrast zum Aufbruch anschickte, entriß sich Caspar seinem Schweigen und sagte in mattem und verändertem Ton: »Der Herr Rittmeister hat also nicht die Wahrheit gesagt?«
»Nein, er hat gelogen,« versetzte Daumer kurz.
»Das ist schlecht von ihm, sehr schlecht,« sagte Caspar.
Erstaunlich schien ihm zunächst die Tatsache des Lügens, erstaunlicher noch, daß sich ein so großer Herr ihm gegenüber der Lüge schuldig gemacht. Warum hat er das mit dem Brief gesagt, grübelte er, und stundenlang war er damit beschäftigt, sich des Rittmeisters Worte immer wieder von neuem vorzusagen und sich das Gesichtzurückzurufen, in welchem, von ihm nicht gewußt, die Lüge wohnte.
Es war da etwas nicht in Ordnung. Er sann und sann und kam zu keinem Ende. Um sich auf andre Gedanken zu bringen, schlug er die Rechenfibel auf und ging an sein Tagespensum. Als auch dies nichts half, nahm er die Glasharmonika, die ihm eine Dame aus Bamberg geschenkt, und übte sich eine halbe Stunde lang in den simpeln Melodien, die er darauf zu spielen erlernt hatte.
Plötzlich erhob er sich und trat vor den Spiegel. Starr blickte er sein eignes Gesicht an: er wollte sehen, ob Lüge darin sei. Trotz der Beklommenheit, die er dabei empfand, reizte es ihn, einmal selber zu lügen, nur um zu prüfen, wie nachher sein Gesicht aussehen würde. Ängstlich schaute er sich um, blickte dann wieder in den Spiegel und sagte leis: »Es schneit.«
Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne schien.
Nichts hatte sich in seinem Gesicht verändert: man konnte also lügen, ohne daß es jemand bemerkte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde sich verfinstern oder verstecken, aber sie schien ruhig weiter.
Am Abend kam Daumer mit einem neuen Ärger nach Hause. Von der Mutter gefragt, was es denn schon wieder gebe, zog er ein kleines Zeitungsblättchen aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Es war der »Katholische Wochenschatz«; auf der ersten Seite stand eine Epistel über Caspar Hauser, die mit den fettgedruckten Lettern begann: Warum läßt man den Nürnberger Findling nicht der Segnungen der Religion teilhaftig werden?
»Ja, warum läßt man denn nicht?« spottete Anna.
»Und das wagt man in einer
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