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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Bewegung in freier Luft fehlt,« schrieb er; »hier ist Abhilfe dringend nötig. Man lasse ihn reiten. Es ist mir der Stallmeister von Rumpler dortselbst empfohlen worden. Hauser soll dreimal wöchentlich eine Reitstunde bei ihm nehmen, die Kosten soll der Stadtkommissär auf Rechnung setzen.«
    Vielleicht waren es die Träume, die Caspar blaß machten. Fast jede Nacht befand er sich in dem großen Haus. Die gewölbten Hallen waren von silbernem Licht durchflutet. Er stand vor der geschlossenen Tür und wartete, wartete ...
    Endlich eines Nachts, die dämmernden Räume des großen Hauses dehnten sich schweigend und leer, tauchte vom untersten Gang her eine schwebende Gestalt auf. Caspar dachte zuerst, es sei der Mann im weißen Mantel; aber als die Gestalt näherkam, gewahrte er, daß es eine Frau war. Weiße Schleier umhüllten sie und flogen bei den Schultern durch den Hauch eines unhörbaren Windes empor. Caspar blieb wie festgewurzelt stehen; sein Herz tat ihm wehe, als hätte eine Faust danach gegriffen und es gepackt, denn das Antlitz der Frau zeigte einen solchen Ausdruck des Kummers, wie er ihn noch an keinem Menschen bemerkt. Je näher sie kam, je furchtbarer schnürte sein Herz sich zusammen; ernst schritt sie vorbei; ihre Lippen nannten seinen Namen, es war nicht der Name Caspar, und doch wußte er, daß es sein Name war oder daßihm allein der Name galt. Sie hörte nicht auf, denselben Namen zu nennen, und als sie schon wieder in weiter Ferne war und die Schleier wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten, hörte er immer noch den Namen; da wußte er, daß die Frau seine Mutter war.
    Er wachte auf, in Tränen gebadet; und als Daumer kam, stürzte er ihm entgegen und rief: »Ich hab’ sie gesehen, ich habe meine Mutter gesehen, sie war es, sie hat mit mir gesprochen!«
    Daumer setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Sieh mal, Caspar,« sagte er nach einer Weile, »du darfst dich solchen Wahngebilden nicht gläubig hingeben. Es bedrückt mich aufrichtig und schon lange. Es ist, wie wenn jemand in einem Blumengarten lustwandeln darf und, statt freudigem Genuß sich zu überlassen, die Wurzeln ausgräbt und die Erde durchhöhlt. Versteh mich wohl, Caspar; ich will nicht, daß du auf das Recht verzichtest, alles zu erfahren, was auf deine Vergangenheit Bezug hat und auf das Verbrechen, das an dir verübt wurde. Aber bedenke doch, daß Männer von reicher Erfahrung, wie der Herr Präsident und Herr Binder, dafür am Werke sind. Du, Caspar, solltest vorwärts schauen, dem Lichte leben und nicht der Dunkelheit; im Lichte ruht dein Dasein, dort ist das Glück. Jeder Mensch von Vernunft kann, was er will; tu mir die Liebe und wende dich ab von den Träumen. Nicht umsonst heißt es ja: Träume sind Schäume.«
    Caspar war bestürzt. Der Gedanke, daß in seinen Träumen keine Wahrheit sein solle, wurde ihm zum erstenmal entgegengehalten, aber zum erstenmal war die eigne Gewißheit von einerSache fester als die Meinung seines Lehrers. Das zu empfinden, bereitete ihm keine Genugtuung, sondern Bedauern.
Religion, Homöopathie, Besuch von allen Seiten
    So war es Dezember geworden und eines Morgens fiel der erste Schnee des verspäteten Winters.
    Caspar wurde nicht müde, dem lautlosen Herabgleiten der Flocken zuzuschauen; er hielt sie für kleine beflügelte Tierchen, bis er die Hand zum Fenster hinausstreckte und sie auf der warmen Haut zerrannen. Garten und Straße, Dächer und Simse glitzerten, und durch das Flockengewühl kroch lichter Nebeldampf wie Hauch aus einem atmenden Mund.
    »Was sagst du dazu, Caspar?« rief Frau Daumer. »Erinnerst du dich, daß du mir nicht glauben wolltest, als ich dir einmal vom Winter erzählte? Siehst du, wie alles weiß ist?«
    Caspar nickte, ohne einen Blick von draußen zu wenden. »Weiß ist alt,« murmelte er, »weiß ist alt und kalt.«
    »Um elf Uhr hast du Reitstunde, Caspar, vergiß es nicht,« mahnte Daumer, der in seine Schule ging.
    Eine überflüssige Sorge; das vergaß Caspar nicht, allzulieb war ihm schon das Reiten geworden seit der kurzen Zeit, wo er damit begonnen.
    Er liebte Pferde, war ihm doch ihre Gestalt gar sehr vertraut. Es kam vor, daß abendlicheSchatten als schwarze Rosse vorüberstürmten, erst am feurigen Rand des Himmels Halt machten und ihn mit zurückschauendem Blick aufforderten, sie in die unbekannte Ferne zu geleiten. Auch im Wind sausten Rosse, auch die Wolken waren Rosse, in den Rhythmen der Musik hörte er das

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