Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
»gebärdet er sich doch, als ob er sein Leben lassen sollte, wenn ich ihn zum Kirchgang auffordere.« – »Macht nichts, es ist Ihr Beruf, seinen Widerstand zu brechen,« lautete der Bescheid.
Der gute, hilflose Kandidat Regulein! Ein junges Männlein, das nie jung gewesen war und dessen Gottesgelehrtentum von so dünner Beschaffenheit war wie seine Beine. Er zitterte insgeheim vor den Unterrichtsstunden, die er Caspar erteilen mußte, und sooft ihn eine Fragein Verlegenheit setzte, was gar nicht selten geschah, verschob er die Auskunft auf das nächste Mal, wobei er sich vornahm, in gewissen Büchern nachzuschlagen, um nicht gegen die Theologie zu verfehlen. Caspar wartete treuherzig, aber in der folgenden Stunde kam nichts oder wenig. Der Kandidat, der im stillen hoffte, sein Schüler habe vergessen, erschrak und wich aus. Das half nicht; der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer Verschanzung in die andre, bis das verzweifelte Argument aufgestellt werden mußte, es sei unrecht, über dunkle Gegenstände des Glaubens zu forschen.
Caspar lief zu Daumer und beklagte sich bitter, daß er keine Aufschlüsse erhalte. Daumer fragte, was er zu wissen begehrt habe. Er hatte zu wissen verlangt, warum Gott nicht mehr wie in früheren Zeiten zu den Menschen herabkomme, um sie über so vieles, was verborgen sei, zu belehren. »Ja sieh mal, Caspar,« sagte Daumer, »es gibt Geheimnisse in der Welt, die sich eben beim besten Willen nicht verstehen lassen. Da muß man Vertrauen haben, daß Gott eines Tages unser Herz darüber erleuchtet. Wir alle wissen ja auch nicht, woher du kommst und wer du bist, und trotzdem hoffen wir von der Gerechtigkeit und Allwissenheit Gottes, daß er uns eines Tages darüber Aufschluß gewährt.«
»Aber Gott hat doch nichts damit zu tun, daß ich im Kerker war,« erwiderte Caspar sanft, »das haben doch die Menschen getan.« Und ratlos setzte er hinzu: »So ist’s eben. Das eine Mal sagt der Kandidat, Gott lasse den Menschen ihren freien Willen, das andre Mal sagt er, Gott strafe sie für ihre bösen Handlungen. Da werd’ ich ganz zum Narren.«
Diese Unterhaltung fand an einem stürmischen Nachmittag Ende März statt und Daumer geriet durch sie in eine so trübe Stimmung, daß er eine angefangene schriftliche Arbeit nicht zu beendigen vermochte. Man raubt ihn mir, man bricht ihn mir zu Stücken, dachte er. Voll Traurigkeit nahm er ein dickes Heft zur Hand, das seine Aufzeichnungen über Caspar enthielt, und blätterte drin herum. Er schrak zusammen, als seine Schwester ziemlich hastig eintrat, noch mit Pelzkappe und Umhang, wie sie von der Straße kam. Ihr Gesicht verriet Aufregung, und sie wandte sich mit der schnell hervorgestoßenen Frage an Daumer: »Weißt du schon, was man in der Stadt spricht?«
»Nun?«
»Man erzählt sich, Caspar Hauser sei von fürstlicher Abkunft, ein beiseitegeschaffter Prinz.«
Daumer lachte gezwungen. »Das fehlte noch,« entgegnete er abschätzig. »Was denn noch alles!«
»Du glaubst nicht daran? Das hab’ ich mir gleich gedacht. Aber woher mögen solche Gerüchte stammen? Irgend etwas muß doch dahinter sein.«
»Gar nichts muß dahinter sein. Sie schwatzen eben. Laß sie schwatzen.«
Eine halbe Stunde später erhielt Daumer den Besuch des Archivdirektors Wurm aus Ansbach. Es war dies ein kleiner, etwas verwachsener Mann, der nie lächelte; es hieß von ihm, daß er sehr befreundet mit Herrn von Feuerbach und die rechte Hand des Regierungspräsidenten Mieg sei. Von ersterem bestellte er Grüße an Daumer und sagte, der Staatsrat werde in allernächsterZeit nach Nürnberg kommen, er beschäftige sich angelegentlich mit der Sache Caspar Hausers.
Nach einem kurzen, wenig belangvollen Hin- und Herreden griff der Archivdirektor plötzlich in die Rocktasche, brachte ein kleines broschiertes Buch zum Vorschein und reichte es wortlos Daumer. Dieser nahm es und las den Titel: »Caspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger. Vom Polizeirat Merker in Berlin.«
Daumer besah das Büchlein mit feindseligen Augen und sagte matt: »Das ist deutlich. Was will der Mann? Was ficht ihn an?«
»Es ist ein gehässiges Pamphlet, tritt aber höchst plausibel auf,« erwiderte der Archivdirektor. »Es sind da mit Fleiß und Geschick alle Verdachtsgründe, die schon längst in mißtrauischen Gemütern spuken, gegen den Findling zusammengetragen. Der Verfasser prüft alle Angaben Caspars auf ihre Verdächtigkeit hin, auch gibt er Beispiele aus der Vergangenheit, wo
Weitere Kostenlose Bücher