Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
wehren. Soll der Jüngling aus dem Mond heruntergefallen sein? Wollen Sie irdische Verhältnisse für ihn nicht gelten lassen?«
»O gewiß, gewiß!« Daumer seufzte. Dann fuhr er fort: »Ich schmeichelte mir mit andern Hoffnungen. Das Grübeln und Verlangen nach rückwärts ist eben das, was ich Caspar ersparen wollte. Gerade das Freie, Freischwebende, Schicksallose war es ja, was mich so stark an ihm ergriffen hat. Außerordentliche Umstände haben diesen Menschen mit Gaben bedacht, wie kein andrer Sterblicher sich ihrer rühmen kann; und das soll nun alles verkümmern, abgelenkt werden in das Gleis von Erlebnissen, die ja an sich tragisch genug sein mögen, aber doch nichts Ungemeines an sich haben.«
»Ich verstehe, Sie wollen den mystischen Nimbus nicht zerstören,« versetzte der Bürgermeister mit etwas pedantischer Geringschätzung. »Aber wir haben größere Pflichten gegen den Mitmenschen als gegen das Unikum Caspar Hauser. Lassen Sie sich das ernstlich gesagt sein, lieber Professor. Es erscheinen heutzutage keine Engelmehr und wo Unrecht geschehen ist, muß Sühne sein.«
Daumer zuckte die Achseln. »Glauben Sie denn, daß Sie damit etwas zum Heile Caspars tun?« fragte er mit einem Ton von Fanatismus, der dem Bürgermeister lächerlich erschien. »Nur Erdenschwere und Erdenschmutz heften Sie ihm an. Schon jetzt erhebt sich ja ein Gezänke um ihn, daß mir mein Anteil an seiner Sache verbittert wird. Es werden böse Geschichten zutage kommen.«
»Das sollen sie; wenn sie nur zutage kommen,« erwiderte Binder lebhaft. »Im übrigen tue jeder, was seines Amtes.«
Am nächsten Vormittag stellte sich der Bürgermeister in Daumers Wohnung ein und sie gingen mit Caspar zur Burg hinauf. Herr Binder läutete an der Pförtnerwohnung; der Pförtner kam mit einem großen Schlüsselbund und geleitete sie hinüber.
Als sie vor dem mächtigen zweiflügeligen Tor standen, war es, als ob sich Caspars Gesicht plötzlich entschleiere. Er reckte sich auf, sein Oberleib bog sich nach vorn und er stammelte: »So eine Tür, genau so eine Tür.«
»Was meinst du, Caspar, was schwebt dir vor?« fragte der Bürgermeister liebevoll.
Caspar antwortete nicht. Mit gesenktem Auge und nachtwandlerischer Langsamkeit schritt er durch die Halle. Die beiden Männer ließen ihn vorangehen. Immer nach ein paar Schritten blieb er stehen und sann. Seine Erschütterung wuchs zusehends, als er die breite Steintreppe hinaufstieg. Oben blickte er sich seufzend um; sein Gesicht war bleich, die Schultern zuckten. Daumer hatte Mitleidmit ihm und wollte ihn seiner Hingenommenheit entreißen, doch wie er zu sprechen begann, sah ihn Caspar mit einem fernweilenden Blick an, lispelte: »Dukatus, Dukatus« und lauschte dabei, als wolle er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen.
Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafenbildnisse an den Wänden, er schaute durch die Flucht der offenen Säle, er stand in der Galerie und schloß die Augen, und endlich, auf eine leise Frage des Bürgermeisters, wandte er sich um und sagte mit erstickter Stimme, es sei ihm so, als habe er einmal ein solches Haus gehabt, und er wisse nicht, was er davon denken solle.
Der Bürgermeister sah Daumer schweigend an.
Nachmittags suchten sie Herrn von Tucher auf und entwarfen in Gemeinschaft mit ihm den Bericht an den Präsidenten Feuerbach. Das ausführliche Schreiben wurde noch selbigen Tags zur Post gegeben.
Sonderbarerweise erfolgte darauf weder ein Bescheid noch überhaupt ein Zeichen, daß der Präsident das Schriftstück erhalten habe. Der Brief mußte verloren gegangen oder gestohlen worden sein. Baron Tucher ließ unter der Hand und auf privatem Weg bei Herrn von Feuerbach anfragen, und man erfuhr wirklich, daß dieser von nichts wisse. Unruhe und Bestürzung bemächtigte sich der drei Herren. »Sollte da ein unsichtbarer Arm im Spiel sein wie bei jenem Zettel, den man mir ins Fenster geworfen hat?« meinte Daumer ängstlich. Nachforschungen bei der Post hatten kein Ergebnis, und so ward der Bericht zum zweitenmal abgefaßt und durch einen sicheren Boten dem Präsidenten persönlich eingehändigt.
Feuerbach erwiderte in seiner kategorischen Art, daß er die Sache im Auge behalten wolleund sich aus naheliegenden Gründen einer schriftlichen Meinungsäußerung enthalte. »Ich entnehme aus dem Gesundheitsattest des Amtsarztes, worin bei einem sonst befriedigenden Befund von Caspars bleicher Gesichtsfarbe die Rede ist, daß es dem jungen Menschen an regelmäßiger
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