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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Schildchen: Tagebuch – Stundenbuch für Caspar Hauser. Er schlug es auf und gewahrte, auf der ersten Seite eingeklebt, das Bild Feuerbachs und darunter, von der Hand des Präsidenten geschrieben, die Worte: Wer die Stunde liebt, der liebt Gott; der Lasterhafte entflieht sich selbst.
    Caspar schaute den Präsidenten mit großen Augen ängstlich an. Er wiederholte für sich im stillen, mit sichtbarer Bewegung der Lippen, die geschriebenen Worte und dann, was der Präsident zu ihm gesagt; alles verfloß im Nebel und, des feierlichen Tones halber, in eine Ahnung von Gefahr.
    Es pochte an der Tür und auf das Herein des Präsidenten brachte ein Eilbote einen Brief. Kaum hatte Feuerbach, ohne das Schreiben zu öffnen, einen Blick auf das Siegel geworfen, als er die Handglocke läutete und dem eintretenden Diener den Befehl gab, es solle sogleich angespannt werden. »Ich muß noch diesen Abend reisen,« sagte er zu Caspar.
    In unbestimmtem Lauschen und Warten blieb Caspar stehen. Der Postillon im Hof knallte mit der Peitsche. Ein Hauch der Ferne umwehte Caspar, er spürte plötzlich etwas von der Größe der Welt, und die Wolken am Himmel schienen Arme herunterzustrecken, um ihn emporzuheben. Als ihm der Präsident die Hand zum Abschied reichte, bat er schmeichelnd, mit verlangendem Lächeln: »Möcht’ auch mitfahren.«
    »Wie, Caspar!« rief der Präsident in gespielter Überraschung, und plötzlich wieder das frühere Du der Anrede wählend, »willst du denn fort von den Nürnbergern? Hast du denn vergessen, was du deinem gütigen Pflegevater schuldig bist? Was würde Herr Daumer sagen, wenn du ihn so undankbar verließest? und viele andre wackere Männer, die sich deiner angenommen haben? Es erstaunt mich, Caspar. Bist du denn nicht gern hier?«
    Caspar schwieg und senkte die Augen. Hier ist immer dasselbe, dachte er. Er sehnte sich fort; er dachte, einmal könne man fortgehen, man könnte in der Nacht das Tor öffnen und könnte gehen, ohne den Weg zu wissen. Vielleicht käme dann einer, um zu fragen: wohin, Caspar? Und er führte ihn zu einem Schloß, vor dem viel Volks versammelt ist; drinnen ruft eine Stimme Caspars Namen, die Leute machen Platz und viele Arme deuten auf das Tor, dem er zuschreitet.
    »Sprich!« mahnte der Präsident barsch.
    »Sie sind alle gut mit mir,« flüsterte Caspar mit zuckenden Lippen.
    »Nun also!«
    »Es ist nur –«
    »Was? Was ist –? Heraus mit der Sprache!«
    Caspar schlug langsam die Augen auf, machte mit dem Arm eine weite Geste, als wolle er den ganzen Erdkreis in das Wort einbeziehen und sagte: »Die Mutter.«
    Feuerbach wandte sich weg, ging zum Fenster und blieb schweigend stehen.
    Eine Viertelstunde später schritt Caspar durch die engen Gassen beim Rathaus und kam alsbaldauf den menschenverlassenen Egydienplatz. Es war schon dunkel geworden, vor der Kirche brannte eine Öllaterne, und während er nach links abbog, wo das niedere Buschwerk einer Gartenanlage den Platz gegen die Laufergasse schloß, gewahrte er einen ruhig stehenden Mann, der gebeugten Kopfes nach ihm hersah. Caspar ging ein wenig langsamer, plötzlich sah er, daß der Mann den Arm erhob und mit dem Finger winkte.
    Caspars Herz klopfte laut. Irgend etwas zwang ihn, der stummen Aufforderung des Unbekannten zu folgen. Der Mann fuhr fort, mit dem Finger zu winken, und wie hingezogen tat Caspar ein paar Schritte auf ihn zu. Da ging der Mann tiefer in das Gehölz, hörte aber nicht auf zu winken. Caspar konnte sein Gesicht nicht sehen, das unter dem weit in die Stirn gedrückten Hut versteckt war.
    Er folgte dem Menschen, obwohl alle Fibern seines Leibes widerstrebten, mit Grauen fühlte er sich Schritt um Schritt gezogen, seine Augen waren aufgerissen, Staunen und Schrecken lagen in seinem Gesicht, und die Hände hielt er mit gespreizten Fingern von sich gestreckt.
    Schon war er dem Unbekannten so nahe, daß er dessen gelbe Zähne zwischen den Lippen schimmern sah, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn sich nicht in diesem Augenblick auf der andern Seite des Gebüsches ein Trupp betrunkener junger Leute hätte hören lassen; der fremde Mann stieß einen gurrenden Laut aus, bückte sich rasch und war unter dem Schutz des Laubwerks im Nu verschwunden.
    Auch Caspar kehrte um und rannte gegen die Kirche; er lief geradeswegs mitten in die Scharder Lärmmacher hinein, die ihn aufzuhalten suchten, und so vermischte sich ein Schrecken mit dem andern. Nur mit Mühe riß er sich los, einige folgten ihm schreiend,

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